Süddeutsche Zeitung

Chelsea in der Champions League:Fallrückzieher schlägt Zynismus

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Thomas Tuchel setzt seine Erfolgsserie mit Chelsea fort, weil er den Matchplan von Atlético aushebelt und Olivier Giroud kunstvoll trifft. Die kommenden Wochen haben es für beide Teams nun in sich.

Von Javier Cáceres, Berlin

Die Champions-League-Partie gegen den FC Chelsea war gerade vorbei, und Diego Simeone, der Trainer von Atlético Madrid, musste etwas tun, was ihm nicht behagt: das fortgesetzte Schwächeln seines Teams offen eingestehen. 0:1 hatte Atlético gegen die Londoner verloren, es war das "Heimspiel" der Spanier - in Bukarest. Nach dem Pokal-Aus im Januar bei der drittklassigen UE Cornellá droht damit auch in der Königsklasse ein früher K.-o. In der heimischen Liga liegt Atlético noch vorne, aber auch dort gab es soeben unerwartete Rückschläge. Und nun stehen herausfordernde Aufgaben bevor, gegen Villarreal und den Stadt- und Titelrivalen Real. "Wir durchleben einen heiklen Moment", konzedierte Simeone.

Das kann man wohl so sagen, denn sein Team war defensiv noch nie so anfällig wie im Augenblick. Acht Spiele mit mindestens einem Gegentor hat Atlético aneinandergereiht, derlei hatte es unter dem seit Dezember 2011 amtierenden Simeone noch nie gegeben. Chelsea hingegen? Hat unter Thomas Tuchel noch nie das Gefühl einer Niederlage kennengelernt. In bislang acht Spielen mit dem neuen deutschen Trainer hat sich Chelsea augenscheinlich verbessert - und bisher nur zwei Gegentore kassiert.

Gegen dieses kompakte Chelsea schoss Atlético kein einziges Mal aufs gegnerische Tor - auch nicht der zuletzt gern gehypte Mittelstürmer Luis Suárez, der in der laufenden Spielzeit noch null Champions-League-Treffer aufweist. Dennoch sagt Simeone: "Wenn mir im September jemand vorgeschlagen hätte, jetzt in der Liga Tabellenführer zu sein und nach dem Achtelfinal-Hinspiel mit 0:1 hinten zu liegen, dann hätte ich das unterschrieben." Im Rückspiel an der Stamford Bridge in London (17. März) muss Atlético wohl allerdings das eigene (Erfolgs-)Drama von Anfield 2020 toppen. Zur Erinnerung: Vor einem Jahr schaltete Atlético in jenen Tagen, als die Pandemie ausbrach, im Achtelfinale den FC Liverpool in dessen Stadion aus, durch ein 3:2 in der Verlängerung.

Simeone beschränkt sich darauf, das eigene Tor zu verbarrikadieren

Ob gegen Chelsea am Dienstagabend mehr möglich gewesen wäre, wird man nie erfahren. Simeone musste sich seitens der spanischen Presse den Vorwurf der Feigheit gefallen lassen. Wie so oft in entscheidenden Spielen kaprizierte sich der Trainer vor allem darauf, das eigene Tor zu verbarrikadieren, die letzte Verteidigungslinie bildeten gegen Chelsea-Ballbesitz oftmals sechs Spieler. Ein Künstler wie João Félix musste dabei ebenso auf ein Messer beißen wie Marcos Llorente, der zuletzt zu den gefährlichsten Offensivkräften gehörte. Sie mussten gemäß dem zynischen Kalkül Simeones mitverteidigen, statt ihre Stärken auszuspielen.

"Ich weiß nicht, was ihr erwartet habt", sagte Simeone nach der Partie - und verteidigte seinen Matchplan. Man habe den Ball mithilfe eines tief stehenden, soliden Abwehrblocks erobern und anschließend das eigene Talent nutzen wollen. Allein: Das gelang nur äußerst sporadisch, denn Chelsea nahm die Hauptdarstellerrolle gerne an - und verteidigte selbst überaus diszipliniert. "Wir haben sie nie richtig atmen und kontern lassen", sagte Tuchel.

Tuchels Freude war umso größer, als sein Team den Gegner spät, aber eindrucksvoll abstrafte - durch den französischen Weltmeister Olivier Giroud. Ein Angriff Chelseas schien schon verpufft zu sein, und der Stürmer Giroud ärgerte sich über einen nicht angekommenen Pass - ehe ein Querschläger von Atlético-Verteidiger Mario Hermoso dafür sorgte, dass der Ball im hohen Bogen doch noch auf Giroud zuflog. Der reagierte instinktiv, schraubte sich in die Luft und wuchtete den Ball mit einem feinen Fallrückzieher ins Tor (71.). Giroud hat eine Vorliebe für spektakuläre Tore, für "Gesten wie diese, die ich mag", wie er sagte.

Er ertrug es auch, dass der Münchner Schiedsrichter Felix Brych ihn zappeln lassen musste: Giroud hatte im Abseits gestanden, erst nach einem rund dreiminütigen Bilderstudium durch Videoassistent Marco Fritz war klar, dass Girouds Siegtreffer - weil die Vorlage vom Gegner kam - legal war. "Fantastisches Resultat, fantastisches Tor, hochverdient", konstatierte Tuchel, der das Team der deutschen Nationalspieler Antonio Rüdiger, Timo Werner und Kai Havertz (der spät eingewechselt wurde) seit Ende Januar regiert. Es war der sechste und der bisher wichtigste Chelsea-Sieg für den vormaligen Trainer von Mainz, Dortmund und Paris Saint-Germain.

"Ich sehe den Willen, ich sehe den Hunger, ich sehe das Verlangen", sagte Tuchel. Auch für ihn haben es die kommenden Wochen in sich. In der Liga muss der Tabellenfünfte Chelsea seine Champions-League-Ambitionen nun gegen prominent gecoachte Teams verteidigen: gegen das Manchester United von Ole Gunnar Solskjaer (Sonntag), gegen Liverpool und Jürgen Klopp, gegen den FC Everton von Carlo Ancelotti und gegen Leeds United mit Marcelo Bielsa. "Das Gute daran ist", sagte Tuchel, "dass es uns dieser Spielplan nicht erlaubt, bequem zu werden."

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