Süddeutsche Zeitung

Werder Bremen:Das Füllkrug-Dilemma rückt näher

Lesezeit: 4 min

Die Fans von Werder Bremen lehnen die WM in Katar ab - aber was, wenn ihr Herzensmann dort mitspielen sollte? Mit seinem Siegtreffer gegen Hertha BSC schreibt der Stürmer weiter am eigenen Märchen.

Von Ralf Wiegand, Bremen

Manchmal bietet es sich an, eine Geschichte vom Ende her zu erzählen, besonders bei Fußballspielen, an denen der SV Werder Bremen beteiligt ist. Ganz am Ende standen die Spieler aus der Hansestadt aufgereiht wie zur Menschenkette vor den Fans in der Ostkurve des Weserstadions. Die Zuschauer auf den Rängen schunkelten, die Profis auf dem Rasen hüpften, und es sah so aus, als hätten die da unten etwas Großes gewonnen, was denen da oben sehr gut gefallen hat. Dabei galten die Feierlichkeiten lediglich einem dreckigen Arbeitssieg aus dem Maschinenraum der Bundesliga: Der vor dem Spiel Elfte hatte den vor dem Spiel Dreizehnten 1:0 niedergerungen. So what?

Die Schönheit des Spiels kann es gewiss nicht gewesen sein, was die Bremer so aus sich herausbrachte. Was war es also dann?

Nun, die große Freude dürfte aus der Erleichterung heraus entstanden sein, dass das, was in dieser Saison für die Bremer Bundesliga-Rückkehrer so verheißungsvoll begonnen hatte, nicht schon wieder vorbei ist. Dreimal hatten die Bremer in der Woche zuvor verloren, waren aus dem Pokal ausgeschieden, und Niclas Füllkrug hatte nicht einmal getroffen. Wobei, "ich bin schon der Meinung, dass ich in Paderborn ein rechtmäßiges Tor geschossen habe", sagte Füllkrug, das hatte beim Pokal-Aus gegen den Zweitligisten halt nur der vierte Offizielle anders gesehen. Gegen die sperrigen Berliner aber war Werders Mittelstürmer wieder zur Stelle, 85. Minute, 1:0, die Entscheidung.

Ein spätes Tor, ein später Sieg, ein Stürmertor von Füllkrug: Die Bremer Fans feiern, dass ihre Mannschaft wieder für etwas steht, sie sind der lebende Beweis dafür, dass es erst vorbei ist, wenn es vorbei ist. Niemand kann sich gegen sie sicher sein, dass der Drops gelutscht, die Messe gesungen und der Käse gegessen ist. Die Hertha, die mit dem Vorsatz der Risikominimierung ein extrem unangenehmer Gegner war, wähnte sich die gesamten 90 Minuten "gut im Spiel", wie Trainer Sandro Schwarz anmerkte. Den Glauben an sich selbst konnten sie den Bremern aber eben nicht final rauben.

Werder ist das Team der späten Tore

Ole Werner, der Trainer, der Werder diese - großes Wort - Mentalität eingebimst hat, sagte, "es lohnt sich zu bleiben bei uns", zu früh gehen solle man besser nicht. Ein Spiel dauere "90 plus", das hat Werner seiner Elf schon in der vergangenen Saison vor Spielen immer wieder eingetrichtert. Und dass sie "bei sich bleiben" solle, noch so ein Ole-Werner-Mantra. Nicht den Kopf verlieren im Spiel, nicht nach zwei Siegen und auch nicht nach drei Niederlagen.

Die Mannschaft scheint zu verstehen, was der Trainer meint, sie lernt. Gegen Mainz habe man ein ähnliches Spiel wie gegen die Hertha noch verloren, sagte Niclas Füllkrug, "aber wir haben es analysiert und die Sache diesmal besser gemacht". Erwachsen habe seine Elf gespielt, sagte Werner, und so eine vollkommen offene Partie kurz vor Schluss noch auf ihre Seite gezwungen.

Zehn Tore hat Werder in dieser Saison jetzt schon nach der 80. Minute geschossen, der Aufsteiger hat ungewöhnliche Steherqualitäten. "Wir wollten es mehr", sagte Füllkrug, der den entscheidenden Treffer mit dem Kopf erzielte, aus gut 15 Metern. "Weltklasse", fand Mitspieler Milos Veljkovic. "Ich ranke meine eigenen Tore nicht", erwiderte Füllkrug, fand dann aber doch schon auch: "Tolles Tor." Es ist bereits sein neuntes.

Ruft Flick an?

Öfter hat bisher keiner in dieser Bundesligasaison getroffen, und naturgemäß reißen die Spekulationen nicht ab, ob Füllkrug, 29, nicht genau der Spieler ist, der dem zwar spielstarken, aber bisweilen wenig zielstrebigen Kader von Bundestrainer Hansi Flick für die kommende Weltmeisterschaft fehlt.

Je länger Füllkrug seine Form Richtung Abflug nach Katar hält, umso wahrscheinlicher wird es, dass Füllkrug die Werder-Fans in ein großes Dilemma stürzen könnte. Der traditionell sehr politische grün-weiße Block drückte auch im Hertha-Spiel per Banner seinen Widerwillen gegen die Fußballsause im autoritär geführten Wüstenstaat aus und empfiehlt, wenn schon die Kicker mitspielen müssen, einfach nicht zuzuschauen: "Boykott" stand auf dem Plakat. Aber wenn der eigene Herzensmann im DFB-Trikot die Tore schießt?

Eine ähnliche Identifikationsfigur im Bremer Kader hat es lange nicht gegeben. Max Kruse war es nicht, er lieferte zwar Spektakel und Tore, aber an seiner Treue bestanden stets Zweifel. Theodor Gebre Selassie liebten die Leute hingegen genau wegen dieser Treue, aber dem zuverlässigen Tschechen fehlte in seinen neun Werder-Jahren eben das Spektakel.

Füllkrug hat von allem etwas, er hat schwere Verletzungen genauso überstanden wie epische Torflauten, er hat sich vor dem Abstieg dem Verein verschrieben und in der zweiten Liga einen Trainer ausgehalten, der nicht mehr an ihn zu glauben schien. Er hat die Mannschaft mit seinen Toren in die Bundesliga zurückgeschossen, aus der er mit ihr abgestiegen war, und verleiht ihr im Tandem mit dem kongenialen Sturmpartner Marvin Ducksch ein unverwechselbares Asset. Und seit Saisonbeginn schreibt er nun eben auch noch an seinem eigenen Märchen des womöglich spät berufenen WM-Reisenden.

Aus gebrochenen Biografien entstehen seit jeher die Heldengeschichten im Spitzensport. 564 Tage seiner Karriere hat Füllkrug allein wegen zweier Knorpelschäden und eines Kreuzbandrisses verloren. "Heilsbringer" nannte ihn nun am Freitag der Kicker im Titel seines Berichts über das Spiel gegen Hertha BSC. Ganz unten, ganz oben, Füllkrug verkörpert die Gefühlslage des gesamten Vereins, der ebendies durchlitten hat; das macht ihn nahbar für die Fans.

Er wisse, "auf welchen Listen er stehe", sagte Niclas Füllkrug in nahezu buddhahafter Gelassenheit auf die Frage nach seinen WM-Ambitionen, und alles weitere? Abwarten. Einer, der weiß, was der Fußball an Überraschungen und Enttäuschungen zu bieten hat, kann eben seinen Puls kontrollieren: "Schauen wir mal, wo das hinführt." Die ganze Geschichte wird man sowieso erst danach erzählen können, vom Ende her.

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