Süddeutsche Zeitung

40 Tore in einer Saison:Mit dem Hauch der Historie

Lesezeit: 4 min

Der ewige Bundesligarekord ist nicht mehr: Robert Lewandowski erzielt in Freiburg sein 40. Saisontor und erweist Gerd Müller im Moment des Treffers die Ehre.

Von Martin Schneider

Manchmal passiert Geschichte, und man merkt es gar nicht. Die 28 000 Zuschauer im Stadion an der Grünwalder Straße zum Beispiel hatten damals keine Ahnung vom Hauch der Historie, der über Giesings Höhen wehte, als Gerd Müller 1972 am 32. Spieltag zum 6:3 gegen Frankfurt traf. Es war wie fast alle Gerd-Müller-Tore ein typisches Gerd-Müller-Tor, zwei Eintracht-Verteidiger machten einen Fehler, Müller ahnte das blitzschnell und schoss zum 6:3 ins Netz. Er jubelte kurz, es war sein drittes Tor in der zweiten Halbzeit, klatschte ab, nichts Besonderes. Zwei Spiele standen ohnehin noch aus und überhaupt: Die Bundesliga war noch nicht einmal zehn Jahre alt, wer wusste schon, was die Zukunft bringen würde.

In der Zukunft, die jetzt die Gegenwart ist, wusste man dagegen ganz genau, welche Zeit gekommen war. 48 Jahre, 345 Tage, 22 Stunden und ungefähr 51 Minuten waren vergangen, als Robert Lewandowski um 15:55 Uhr am Elfmeterpunkt in Freiburg stand. Er lief an, verzögerte, schickte den Niederländer Mark Flekken - das letzte Hindernis zwischen ihm und dem Rekord- in die falsche Ecke, der Ball überquerte die Linie, und der Bundesligarekord, von dem man dachte, er würde ewig halten, er war nicht mehr.

Der Vorteil der Gegenwart ist, dass man die Vergangenheit kennt, und Lewandowski erinnerte sich an sie. Er zog sein Trikot hoch, darunter ein T-Shirt mit dem Konterfei von Gerd Müller und der Botschaft "4ever Gerd", "Für immer Gerd". Warum auf Englisch, das weiß man nicht. Aber Lewandowski war bewusst, dass dieser Rekord, den er jetzt innehat, nur deswegen so groß ist, weil er einst von einem der Größten aufgestellt wurde. "Was Gerd Müller geschafft hat, war unglaublich", sagte Lewandowski später. "Ich hätte nie gedacht, dass ich es schaffen könnte, mit ihm einen Rekord zu haben. Ich bin sehr stolz und kann es noch gar nicht glauben."

Seine Mitspieler bildeten nach seinem Treffer ein Spalier, jeder beglückwünschte ihn, und auch diese Geste war Teil einer größeren Geschichte, wenn auch einer kleineren größeren Geschichte. Aber Lewandowski galt lange Zeit, nun ja, nicht als größter Teamplayer, sein Egoismus war sprichwörtlich, und dass es Zeiten gab, da er lieber bei Real Madrid gespielt hätte, das weiß man inzwischen auch. Erst in den vergangenen Jahren änderte sich das - prompt wurde er Weltfußballer, nun der Bundesligarekord. "Tore schießt man nicht allein. Man braucht Spieler, die einen bedienen", sagte sein Trainer Hansi Flick. Lewandowski meinte: "Der Rekord gehört der ganzen Mannschaft. Auf der Liste steht nicht nur mein Name, sondern der der ganzen Mannschaft."

Für die größere Einordnung war dann natürlich ein Müller zuständig, auch wenn er das zunächst gar nicht wollte. "Ich kann es gar nicht so in diesen geschichtsträchtigen Kontext setzen, weil ich selbst dabei bin", meinte Thomas Müller, um es dann doch zu tun. "Gerd Müller hat diesen Verein mit seinen Toren erst dahin gebracht hat, wo wir jetzt stehen. Ohne Gerd Müller würden wir vielleicht immer noch zu Fuß anreisen, ohne ihn würde der Verein, so wie er jetzt existiert, nicht existieren." Was so übrigens auch Uli Hoeneß schon mehrfach gesagt hat, und der kennt sich ja ein bisschen aus mit dem FC Bayern. Müller, also Thomas, holte übrigens auch den Elfmeter raus. Was zur Fußnote führt, dass in der Statistik zum 40. Tor von Robert Lewandowski nun immer "Vorbereitung: Müller" stehen wird. Manchmal bindet der Fußball schon schöne Schleifen.

Thomas Müller hatte selbst noch unter Gerd Müller seine ersten Schritte beim FC Bayern gemacht. Der war damals Co-Trainer der Amateurmannschaft zusammen mit Hermann Gerland. Dann erkrankte er an Demenz, wird heute von seiner Frau Uschi Müller gepflegt, das Tor von Lewandowski hat er wahrscheinlich nicht mehr bewusst wahrgenommen. Aber vor dem Spiel sprach Uschi Müller mit der Sport-Bild. Ihr Mann kenne keine Neidgefühle, sagte sie, er wäre der Erste, der gratulieren würde, der sagen würde: Gut gemacht, Junge. Du bist super. Paul Breitner, Mitspieler von Müller, äußerte sich ähnlich. "Wenn er könnte, dann würde Gerd heute auf der Tribüne sitzen und bei jedem Tor von Lewandowski mit der Zunge schnalzen. Er war so ein wunderbarer, fairer Mensch - er würde es einfach nur genießen."

Lewandowski und Müller - zwei herausragende Spieler aus zwei unterschiedlichen Zeiten. Der eine aß mit großer Leidenschaft Kartoffelsalat mit Gurken, der andere hat eine Ernährungsberaterin zur Frau. Ein moderner Athlet und ein Instinktfußballer, wobei, wenn man sich die alten Tore von Müller und die neuen Tore von Lewandowski anguckt, sieht man erstaunlich viele Gemeinsamkeiten. Beide hatten ein unglaubliches Gespür für die Situation. Antizipationsvermögen heißt es heute, Torriecher hieß es damals, und wer Gerd Müller über seine Tore reden hört, wenn er vom engen Raum, schneller Reaktion und konsequentem Abschluss spricht, der erkennt die Parallelen zu heute. Viele ehemalige Spieler sagen, dass Gerd Müller von allen Fußballern der Vergangenheit in der Gegenwart mit seinen Fähigkeiten am besten zurechtkäme. Manche sagen sogar: Besser zurechtkäme als mit den beinharten Verteidigern der Vergangenheit.

Am kommenden Wochenende kann Lewandowski auf 41 Tore davon ziehen, er hat die Marke gegen Freiburg schon durch eine nahezu grotesk vergebene Chance, als er den Ball von der Torlinie in die Arme von Torhüter Flekken schob, verpasst. Es gibt nicht wenige, die sich wünschen, dass sich die beiden den Rekord teilen. Aber selbst wenn Lewandowski gegen Augsburg treffen sollte, sollte man nicht vergessen, dass Gerd Müller 365 Bundesligatore geschossen hat, für jeden Tag im Jahr ein Tor. Aktuell noch 90 mehr als Lewandowski. Das sind mindestens noch drei Saisons auf höchstem Niveau. Und das muss auch der Weltfußballer erstmal hinkriegen.

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