Süddeutsche Zeitung

Bayers Bundesligaauftakt:Frühes Zungeschnalzen

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Leverkusen erfreut sich an seinen Sommerzugängen und gewinnt gegen Leipzig mit 3:2. Das Spiel zeigt aber auch, was der Mannschaft zu einem Titelkandidaten noch fehlt.

Von Milan Pavlovic, Leverkusen

Granit Xhaka sagte, er habe nichts mitbekommen. Das muss man erst einmal hinkriegen: Wenn eine Arena mit der Dezibel-Beschallung einer Disco innerhalb von Sekunden auf das Tuschel-Level einer Bibliothek runterdimmt - und man ist so im Tunnel wie der Schweizer Nationalspieler in seinem ersten Bundesliga-Spiel seit 2653 Tagen (Mai 2016). Xhaka entschuldigte sich und wollte wissen, was in der Fankurve geschehen war.

Die Fans von Bayer Leverkusen hatten schon vor dem Anpfiff eine tragende Rolle eingenommen: Mit jedem Namen wurden die einheimischen Besucher lauter und lauter, als hätte man einem Cineasten die Besetzung des neuen Films von Christopher Nolan verraten. Ungläubigkeit machte sich breit, denn nach Jonas Hofmann, dem überraschenden Überläufer von Borussia Mönchengladbach, der mit einem Sonderapplaus an der neuen Arbeitsstelle empfangen wurde, ging es erst so richtig los.

Der Stadionsprecher begrüßte die Bundesliga-Debütanten Victor Boniface und Alejandro Grimaldo sowie den aus England heimgekehrten Xhaka. Links und rechts waren sie zuletzt mit Zungenschnalzen bedacht worden, aber erst jetzt schienen viele Zuschauer zu realisieren: Die sind ja wirklich alle bei uns! Es war eine Stimmung, wie man sie an diesem oft so gedämpften Schauplatz selbst in den Zeiten von Lúcio und Ballack, Zé Roberto und Kirsten nur sehr selten erlebt hat - vielleicht 2002 beim Champions-League-Viertelfinale gegen den FC Liverpool (4:2).

Die Ekstase der Fans reichte bis in die Partie hinein. Sie hatte alle Kriterien eines Topspiels, inklusive der Pointen und dramatischen Wendungen, weit über Leverkusens wilden 3:2 (2:1)-Sieg hinaus.

Bayer 04 presst im gegnerischen Strafraum - lässt aber zu viel liegen

Die ersten Minuten attackierte der Werksklub den prominenten Gegner aus Leipzig, als wäre das nicht der Verein, der vor einer Woche den FC Bayern in München gedemütigt hatte. Teilweise zu siebt pressten die Leverkusener am und im gegnerischen Strafraum, erzwangen Gefahrensituationen im 20-Sekunden-Takt. Und hätte Instinktfußballer Florian Wirtz eine normale erste Viertelstunde gehabt und bei Kontern nicht untypischerweise dreimal die exakt falsche Entscheidung getroffen, Leipzig hätte schon früh Gegentore kassieren können.

Nach zehn Minuten drosselten die Gastgeber dann ihre Angriffe, sehr verständlich bei dem auslaugenden Waschküchenklima. Aber was Bayer-Trainer Xabi Alonso besonders zufrieden stimmte, war die Art, wie sein Team in jeder Zone des Feldes dominierte, mit der nötigen Aggressivität im Zweikampf und geschmeidigem One-Touch-Fußball im Aufbau und vertikalen Tempoverschärfungen, mit sezierenden Pässen der drei Innenverteidiger. "Da waren sie besser als wir", lautete Teil eins des Fazits von RB-Trainer Marco Rose.

Dramaturgisch geschickt, direkt vor der Hitzepause, ging Bayer 04 schließlich in Führung. Der mächtige Zugang Victor Boniface, 22, der zu einer Kernfigur dieser Saison werden könnte, verpasste zwar den eigenen Abschluss, doch er setzte nach, und sein scharf getretener Flachpass erreichte am Fünfmeterraum - Beweis der flexiblen Bayer-Offensive - den 1,70 Meter großen Jeremie Frimpong, der auf Bonifaces Position rotiert war und zwischen den Riesen abschloss (23. Minute). Eher schnöde dann das 2:0 durch Jonathan Tah, der nach einem Eckball eklatant allein stand (34.); und wenig später das 2:1 durch einen Kopfball von Dani Olmo (38.), den Boniface bei einem Eckball aus den Augen verloren hatte - Bayer ist in dieser Hinsicht weiterhin entschieden zu generös für einen Titelkandidaten.

Bayers neue Nummer zehn trifft den Ball nicht perfekt - doch genau das bringt das Tor

Wie es Bayer-Schicksal zu sein scheint, reichte dieser Patzer, um das Team kurz aus der Balance zu bringen - aber nicht in der Offensive. Dort kam nun Wirtz auf Touren. Die erste Chance der zweiten Halbzeit, nach einem phänomenalen Pass von Hofmann, ließ er noch aus - besser gesagt: vereitelte Gästetorwart Janis Blaswich fantastisch aus kurzer Entfernung. Kurz danach flitzte Frimpong mal wieder über die rechte Seite, sein Flachpass in den Rücken der Leipziger Abwehr fand Wirtz am Strafraumrand. Der 20-Jährige, der seit dieser Saison die Rückennummer zehn trägt, traf den Ball gar nicht perfekt, aber genau das verwandelte den verunglückten Abschluss in eine unhaltbare Bogenlampe.

Beim Jubeln über diesen schönen Treffer (63.) stürzte ein Bayer-Fan vom Zaun. Danach wurde es schnell gespenstisch. Während sich direkt hinter dem Gästetor Ärzte hinter Sichtschutz um den Patienten kümmerten, schwiegen die Fans aus der Kurve aus Taktgefühl und Solidarität; auf der Haupttribüne sprach sich nur langsam herum, was geschehen war, und dann wurde es so still wie seit den Covid-19-Tagen nicht mehr. Als hätten Grillen mit einem Mal aufgehört zu zirpen.

Im Gegensatz zu Xhaka hatte Jonas Hofmann hatte etwas mitbekommen: "Wenn es so ruhig wird, hat man auf dem Platz schon eine Vermutung. Da habe ich leicht an die Corona-Zeit gedacht, als die Stadien leer waren." Wenn sie es denn realisierten, wirkten die Leverkusener irritierter als die Gäste, die immer munterer wurden. Eine weitere Standardsituation (David Raum auf Mohamed Simakan auf Lois Openda) brachte Leipzig auf 2:3 heran (70.), und gleich nach der zweiten Hitzepause, Bayer war nun komplett ungeordnet, hätte der Belgier sein zweites Tor erzielen müssen: Im Bestreben, eine heikle Situation zu klären, spielte Leverkusens Frimpong den Ball genau auf Opendas Fuß. Der war über die Vorlage zunächst überrascht, drehte sich dann aber flott um die eigene Achse und setzte den Ball - an den Pfosten. Das 3:3 "wäre nicht mehr unverdient gewesen", sagte Leipzig-Trainer Rose im zweiten Teil seines Resümees.

Aber Leverkusen schwamm und schwitzte über die Ziellinie, noch scheint das elegant spielende Team nicht in der Lage zu sein, das gewünschte Tempo 90 Minuten zu gehen. Aber punktemäßig ist ein Anfang gemacht, "wenigstens bis zum nächsten Samstag", sagte Xabi Alonso, der schon vorher proklamiert hatte: "Wir sind nicht dumm und denken, wir sind die Besten, ohne dass wir etwas gemacht haben. Ja, wir haben ein gutes Gefühl. Aber wir müssen erst noch auf dem Platz zeigen, was wir wirklich können."

Jonas Hofmann fand, das hätten sie schon gemacht: "Es war im Vorhinein klar: Wer dieses Spiel gewinnt - und das waren nun eben wir -, setzt ein Statement. Und das ist es nun auch." Hofmann ist eben neu im Trikot von Bayer, er hat noch nie aus der Nähe mitbekommen, wie der Klub in all den Jahren regelmäßig den Selbstzerstörungsknopf gefunden und bedient hat.

P.S.: Dem gestürzten Fan soll es übrigens verhältnismäßig gut gehen - eine letzte gute Nachricht von diesem aufregenden Nachmittag.

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