Süddeutsche Zeitung

Boxen:Letztes Sternenfunkeln

Lesezeit: 4 min

Kickbox-Weltmeisterin Marie Lang hört auf - mit ihrer zweiten Niederlage im 40. Weltmeisterschaftskampf. Über eine Frau, deren Kopf zuletzt müde geworden ist, die ihren Weg trotz unzähliger Rückschläge aber nie bereut hat.

Von Sebastian Winter, München

Marie Lang macht am frühen Donnerstagabend noch ein wenig Entspannungsprogramm. Sie ist mit ihren Eltern, ihrem Lebensgefährten, dessen Familie und ein paar Freunden im Münchner Augustiner-Biergarten, muss sich dort aber in Zurückhaltung üben. Kein Alkohol, nicht zwei Tage vor dem Kampf. Freitagabend, Circus Krone, nur 250 Meter Fußweg vom Biergarten entfernt. Dort also beendet die Kickboxerin Lang, 35, Weltmeisterin in sechs Klassen, ihre Karriere im Rahmen der "Steko's Fight Night". "Bei mir ist es der Kopf, der sagt, ich möchte das nicht mehr", sagt Lang im Biergarten noch am Telefon. Ihr Körper würde wohl noch Jahre boxen können.

Alle sind sie gekommen, ihr ganzes Umfeld aus ihrer Heimat Lemgo in Nordrhein-Westfalen, manche Familienmitglieder sind zum ersten Mal live bei einem ihrer Kämpfe. Es schließt sich ein Kreis, fast 20 Jahre, nachdem Lang mit Kickboxen begann. Und fast zehn Jahre, nachdem sie im Münchner Kampfsportzentrum von Pavlica und Mladen Steko, den Namensgebern der Boxnacht am Freitag, zur Profiboxerin wurde. "Ich habe drei Töchter und Marie wurde wie eine vierte Tochter für mich. Ich bin stolz auf ihre Entwicklung, und wir wollen es noch ein letztes Mal rocken", sagt ihr Trainer Mladen Steko am Montag vor dem Kampf.

Ihre Gegnerin in der Klasse bis 62,5 Kilogramm ist die belgische Europameisterin Kelly Danioko, die für die Schweizerin Martina Steiner einsprang. Steiner hatte sich, wie Lang erzählt, in Thailand einen bakteriellen Infekt am Schienbein zugezogen, unschöne Geschichte, sie hatte keine Chance, schnell wieder in den Ring zu steigen. Und Danioko gibt, wie es sich gehört, schon vor dem Duell die Anheizerin: "Ich bin viel zu schnell und beweglich für Marie Lang", sagt sie. So ist es dann tatsächlich, zumindest ein bisschen, die ersten zwei Runden ist Lang zu passiv, am Ende unterliegt sie nach Punkten. Es ist im 40. Weltmeisterschaftskampf erst ihr zweites verlorenes Duell: "Ich lasse mir durch diese Niederlage nicht kaputtmachen, was ich in den letzten Jahren erreicht habe", sagt Lang, gezeichnet durch ein geschwollenes Auge, später dem Bayerischen Rundfunk: "Es ist für mich jetzt einfach auch okay zu sagen, ich höre auf - egal, ob Sieg oder Niederlage."

Nun hat sie also doch noch einen Abend erlebt, wie sie ihn nicht mehr erleben wollte. Wie damals, am 13. März 2021: Lang boxt im Deutschen Theater in München gegen die Deutsche Michaela Michl - und erleidet ihre erste Niederlage als Profi. Auch dieser Abend ist nicht so geplant, weder in Langs Kopf, noch in ihrem Körper. Und er hat ja eine Vorgeschichte.

Jahrelang ist ja alles nur aufwärts gegangen, Sieg für Sieg. 20 WM-Titel hat Lang in drei verschiedenen Gewichtsklassen gewonnen, 2015 brach sie einen Kickbox-Weltrekord, als sie ihren Titel fünf Mal innerhalb eines Jahres verteidigte. Doch irgendwann wurde sie müde, das Sparring, die harte Vorbereitung, absolute Disziplin, sie wollte all das nicht mehr. 2020 ist Schluss, so lautete ihr Plan. Doch das Coronavirus durchkreuzt alles. Und macht Langs Leben für zwei Jahre zur Hölle.

"Mein Lungenvolumen war auf 80 Prozent geschrumpft", sagt Lang

Am 16. Februar 2020 boxt sie gegen die Serbin Ajla Lukac, Vollkontakt bis 62,5 Kilo. Lang gewinnt, hauchdünn, doch sie hat sich schon davor nicht gut gefühlt. Danach überfallen sie Grippesymptome und Lungenschmerzen. Erst ein Antikörpertest im April ergibt, dass Lang mit dem Coronavirus im Körper gekämpft hat. Im Sommer erholt sie sich wieder, im November der nächste Rückschlag: wieder Corona, diesmal nur schlimmer. "Sobald ich mich angestrengt habe, hatte ich immer wieder Schmerzen in der Brust. Ein halbes Jahr lang ging das so, auch beim Treppensteigen hatte ich nicht genug Luft. Mein Lungenvolumen war auf 80 Prozent geschrumpft", sagt Lang.

Sie macht unzählige Checks und Tests, ist vorsichtig, hält sich an den Rat des Arztes, wegen der Gefahr einer Herzmuskelentzündung nur sehr eingeschränkt zu trainieren. Wieder geht es im Sommer bergauf. Dann wird Anfang 2022 bei Lang eine Vorstufe zum Gebärmutterhalskrebs entdeckt, in einem Instagram-Post wirbt sie daraufhin emotional dafür, zu Vorsorgeuntersuchungen zu gehen. Im März lässt sie sich erfolgreich operieren. Und man fragt sich: Wie viele Rückschläge muss eine Sportlerin aushalten, die eigentlich nur ihren allerletzten Kampf bestreiten und ihre Karriere abrunden will?

Im Mai dann, vor nicht einmal zwei Monaten: wieder Corona, zum dritten Mal. Nur ein paar Wochen vor ihrem letzten WM-Kampf, mitten in der Vorbereitung. Ein Lungenarzt hat ihr zuvor schon gesagt, dass sie als Asthmatikerin anfälliger als andere für das Virus sei. Wieder kein Training, wieder keine optimale Vorbereitung, aber immerhin: Lang hat diesmal nur schwache Symptome. Sie beginnt wieder locker zu laufen, ein bisschen Sparring zu machen, Schattenboxen, damit der Puls nicht zu sehr hochgeht. Die Probleme mit der Lunge und die Schmerzen in der Brust kehren nicht zurück.

Circus Krone also, letzter Vorhang, ein würdiger Ort, um abzutreten. "Mit einem schönen Sternenhimmel an der Decke über dir", sagt Lang. Dass sie dann mehr Sterne sieht als ihre Gegnerin, gehört wohl zum Sport dazu. Lang möchte sich nun eine Auszeit gönnen, nach Sansibar reisen mit ihrem Freund. Sie braucht ihn nun, diesen Abstand, nach all den Jahren, als Model, Moderatorin, Ausflügen in die Schauspiel- und Reality-TV-Branche. Lang kann sich danach vorstellen, eine Fitness-App im Kickbox-Bereich zu entwickeln, ihr Modedesign-Studium in der Praxis anzuwenden, vielleicht schreibt sie ein Buch. Ihr Fazit klingt jedenfalls so, als hätte ihr der Sport auch fürs Leben viel gegeben: "Ich habe mich vom schüchternen Mädchen zu einer selbstbewussten Frau entwickelt. Und darauf bin ich sehr stolz."

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