Süddeutsche Zeitung

Reus entscheidet das Spiel für den BVB:Ein Tor mehr als Emma

Lesezeit: 3 min

Beim 1:0 gegen Wolfsburg straft Marco Reus die eigene Vereinsführung Lügen: Zum alten Eisen gehört er noch nicht - und der abgesetzte Kapitän redet plötzlich wie ein Elder Statesman.

Von Freddie Röckenhaus, Dortmund

Die Verjüngungskur auf dem Kopf hatte Marco Reus schon im Sommer erstmals vorgeführt. Weißblond gefärbt - wie einst Punk-Poser Billy Idol, raunten die Älteren, einen Hauch zu modisch für einen 34-Jährigen. Man erinnerte sich aber an diesem Samstagnachmittag daran, dass Frisuren oft etwas sagen wollen. Der Extra-Cheer, die besondere laute Jubel-Ehrung der Südtribüne nach dem Spiel wird Marco Reus deshalb so süffig heruntergegangen sein wie selten in seinen langen Jahren bei Borussia Dortmund. Zum 62. Mal schoss Reus das 1:0 in einem Bundesligaspiel, und der eine Treffer reichte dieses Mal zum Sieg gegen den VfL Wolfsburg.

Es war der Tag des Erz-Dortmunders Reus, nebenbei gegen Wolfsburg auch noch der laufstärkste Spieler auf dem Platz, der vor der Saison um die Verlängerung seines Vertrages um nur ein Jahr hatte ringen müssen, dem sie das Gehalt drastisch gekürzt haben und der die Kapitänsbinde abgab, weil man ihm zu verstehen gegeben hatte, dass er als künftiger Bankdrücker nicht Spielführer sein könne.

Für Reus und viele seiner Fans in Schwarzgelb müssen die vergangenen Tage schon ein innerer Vorbeimarsch gewesen sein: in Freiburg, am vorangegangenen Spieltag, spät eingewechselt, ein Tor zum späten 4:2-Sieg vorbereitet, das Siegtor selbst geschossen. Beim schwachen Spiel in der Champions League in Paris spät ins Spiel gekommen und endlich für etwas Leben und Wirbel bei Dortmund gesorgt. Und jetzt, zurück in der Startelf des BVB, Reus mit dem Tor des Tages und dazu noch mit dem zweitgefährlichsten Schuss aufs Wolfsburger Tor, einem Freistoß, den der baumlange Koen Casteels mit letzter Streckung aus dem Torwinkel schnipste.

"Wir haben abgeklärt gespielt, obwohl wir als Mannschaft so ja noch nicht zusammen gespielt haben. Wir hatten 90 Minuten Kontrolle übers Spiel, hatten Ruhe am Ball", kommentierte Reus nach dem Abpfiff. Und als ihn der Reporter des Fernsehsenders Sky mit der Aussage seines Trainers Edin Terzic konfrontierte, wonach der BVB nach dem Verlust von Jude Bellingham und Raphael Guerreiro halt noch Zeit brauche, huschte ein Lächeln der Genugtuung über das Gesicht des Torjägers: "Zeit haben wir nicht. Wenn du alle drei, vier Tage spielst, hast du keine Zeit. Wir müssen die Zweikämpfe jetzt annehmen, dann kommt das Spielerische von allein." Das sei heute im Spiel gegen Wolfsburg "in Ordnung" gewesen, sagte Reus weiter, "aber das war noch nicht unser Maßstab".

Wer Reus ins Abseits redet, muss schon sehr viel Vertrauen ins übrige Personal haben

Fast könnte man meinen, dass Reus seinen Trainer da an Analyse-Kraft rechts überholt hatte. Oder atmete da jemand auf, weil er nicht mehr die Moderatoren-Rolle des Mannschaftskapitäns spielen muss, die Kollegen wie dem ebenfalls in Topform spielendem Mats Hummels eben besser liegt? Jetzt, ohne öffentliches Amt, redet Reus wie ein Elder Statesman. Und straft in diesen Tagen all jene ab, die ihn vor der Saison als altes Eisen eingestuft hatten. Und das war mehr oder wenige die gesamte Führungsmannschaft des BVB. Wer sich nach den Verlusten der beiden erfolgreichen Scorer Bellingham und Guerreiro auch noch den torgefährlichen Reus ins Abseits bugsiert, muss schon sehr viel Vertrauen ins übrige Personal im Kader haben.

Nach dem ernüchternden Erlebnis der 0:2-Pleite bei Paris Saint-Germain hatte Reus' Trainer Terzic immerhin erkannt, dass es so wohl nicht weitergeht. Und beorderte neben dem verletzten Marcel Sabitzer fünf weitere Spiele aus der Pariser Startelf auf die Bank, darunter Mannschaftskapitän Emre Can und die beiden Jung-Nationalspieler Karim Adeyemi und Marius Wolf. Neben Reus kamen so Niclas Füllkrug zum Startelf-Debüt in Dortmund, auch der 19-jährige Jamie Bynoe-Gittens durfte auflaufen. Gegen die starke, massiv defensive Deckung Wolfsburgs gelang beiden wenig, und gegen die geballte Spielintelligenz von Reus und Julian Brandt, der Reus letztlich auch den Pass zum Siegtor auflegte, verblassten beide. Dafür sammelte der fast vergessene Salih Özcan als kreativer Sechser Punkte für weitere Einsätze.

Wolfsburgs Taktik der Tempoverschleppung wäre beinahe aufgegangen

Sportdirektor Sebastian Kehl konnte später froh zusammenfassen: "Wir waren deutlich stabiler, haben dominanter aufgespielt. Es geht in die richtige Richtung. Und was man nicht vergessen darf: Wir sind immer noch ungeschlagen." Angesichts der besseren zweiten Halbzeit eine erlaubte Bemerkung. Tatsächlich hängt der BVB bisher gerade mal zwei Punkte hinter dem Rivalen FC Bayern zurück, obwohl die Stimmungslage in Dortmund sich bis zu diesem Samstag irgendwie in der Abstiegszone aufzuhalten schien. Eine Erkenntnis des Tages war aber auch: Von den Zugängen des Sommers, von denen Ramy Bensebaini und Felix Nmecha diesmal noch dabei waren, hat man sich - Stand jetzt - mehr erwartet.

Trainer Terzic fand nachher: "Wir haben heute gezeigt, dass wir klar und ruhig spielen können, und was in uns steckt. Es war unser bestes Spiel bisher." Das war richtig, aber die Wolfsburger von Nico Kovac beschränkten sich lange Zeit auch nur auf eine Verlangsamung der Partie. Das machte Dortmund mit und wartete letztlich mit Erfolg auf den einen unachtsamen Moment, der solche Defensiv-Taktiken oft spät zerstört. So ging es Dortmund am vergangenen Dienstag in Paris, und Wolfsburg nun an diesem Nachmittag gegen die Borussia.

Wäre Reus allerdings nicht auf raffinierte Weise sein 152. Bundesliga-Tor gelungen, hätte es trotzdem klappen können mit der Wolfsburger Verschleppung. Dann hätte sich manche Zwischenbilanz der Dortmunder anders gelesen. So aber blieb als Fakt des Abends: Marco Reus hat jetzt 116 Tore für den BVB erzielt, eines mehr als BVB-Legende Lothar "Emma" Emmerich. Dagegen verblasst fast alles. In Dortmund jedenfalls.

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