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Australian Open:Zverev landet in den Fängen des Kraken

Lesezeit: 4 min

Alexander Zverev verpasst den Einzug ins Halbfinale der Australian Open. Gegen Novak Djokovic wehrt er sich - doch in den entscheidenden Momenten zeigt der Serbe seine Klasse.

Von Gerald Kleffmann, Melbourne/München

Am Ende war es eine Sache der inneren Verfassung, des Willens, des Glaubens. Alexander Zverev hatte ja seine Chancen. Im dritten Satz etwa, als er schon 4:1 geführt hatte. Oder im vierten Satz: ein 3:0-Vorsprung. Im letzten gespielten Tie-Break dann war er nur einen Punkt vom Satzgewinn entfernt gewesen. Aber was soll man machen, wenn der Gegner in genau diesen Momenten ein Ass auspackt? "Es waren viele Nerven da draußen", sagte Novak Djokovic, als er schließlich nach seiner getanen Arbeit, die ihn in sein neuntes Halbfinale bei diesen Australian Open befördert hatte, dem früheren zweimaligen Sieger Jim Courier in der Rod Laver Arena sein erstes Interview gab.

"Wir haben uns beide ans Limit getrieben", sagte der 33-Jährige weiter, doch am Ende, wenn sich dieser eigenwillige Djokovic in Grenzbereichen aufhält, geht er eben oft als Sieger vom Platz. Mit 6:7 (6), 6:2, 6:4, 7:6 (6) gewann der Serbe, eine "Achterbahnfahrt" hätte er erlebt, sagte er später auch noch. Zverev verpasste damit die Gelegenheit, zum zweiten Mal ins Halbfinale dieses Grand-Slam-Turniers einzuziehen. Der 23 Jahre alte Deutsche muss sich weiter mit einem möglichen ersten Triumph in dieser Turnierkategorie gedulden. Bei Grand Slams hat er nun neun Mal gegen Top-Ten-Konkurrenten verloren - in neun Versuchen.

Im Halbfinale trifft Djokovic nun auf Aslan Karazew, die große Überraschung des Wettbewerbs. Der 27-Jährige, der sich als Weltranglisten-114. erst über drei Siege im Qualifikationsturnier einen Startplatz fürs Hauptfeld gesichert hatte, gewann im Viertelfinale mit 2:6, 6:4, 6:1, 6:2 gegen den Bulgaren Grigor Dimitrow (ATP-21.), der sichtlich am Rücken angeschlagen war.

Zverev war, verständlich, ziemlich niedergeschlagen mit der Tasche über dem Rücken in Richtung Umkleidekabine marschiert. Es war mehr drin für ihn gewesen in diesem Duell, viel mehr. Wie sehr er spielerisch ja gereift ist, machte er früh klar. Das Hauptmatch an diesem Dienstagabend (Ortszeit) in Melbourne hatte direkt mit einem Signal begonnen. Mit einem Break für Zverev, ermöglicht auch durch clevere Rhythmuswechsel in den Schlägen von Zverev und zwei Doppelfehler von Djokovic. Zwischenstände spiegeln ja nie im Detail wieder, was in den Köpfen von Spielern vor sich geht, wie sie sich fühlen. Sonst hätte hinter Zverevs Name die Info stehen müssen: megaselbstbewusst! Und hinter Djokovics Name: wackelig!

Nun ist unklar, wie schlimm wirklich die Bauchmuskelverletzung bei Djokovic war und noch ist, die ihn in den vergangenen beiden Runden arg belastet hatte. Er selbst hatte gemeint, es ginge nur mit Schmerzmitteln. Zverev war schlau genug, darauf nicht zu viel zu geben. "Es gibt in Melbourne keinen härteren Gegner als ihn. Das ist sein absoluter Lieblingsort", hatte Zverev zuvor geurteilt, "ich gehe davon aus, dass er auch voll fit ist." Eine Einstellung, die ihn eindeutig in die richtige Grundspannung versetzte, um sofort bereit zu sein für den Kampf. Anfangs wirkte er gegen Djokovic, der als fittester, zähester Spieler stets gilt, fitter und zäher. Sein neues ärmelloses Muskelshirt der Stilrichtung Ballermann verstärkte zusätzlich diesen Eindruck.

Bei 5:4 schlug Zverev zum Satzgewinn auf, doch Djokovic, der verwundbar agierte, nutzte seinen ersten Breakball und glich aus. Im Kopf war Djokovic jetzt wieder ganz der Weltranglisten-Erste. Aber nur kurz. Zwei Satzbälle konnte er abwehren, dann hatte er doch den ersten Satz verloren, mit 6:8 im Tie-Break. "Ich finde Zverev die ganze Zeit ganz ruhig, ganz bei sich", fasste Boris Becker, Djokovics früherer Trainer, als Eurosport-Kommentator den ersten Spielabschnitt gut zusammen.

Zu Beginn des zweiten Satzes das nächste Signal: Djokovic nun mit dem frühen Break zum 1:0. Würde das Match in die andere Richtung kippen? Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Djokovic nahm Zverev ein zweites Mal das Aufschlagspiel ab, 3:0, 4:0. 5:1, 6:2. Er war zurück im Match. Und wieder nur kurz.

Dass Djokovic mental gerade alles andere als ausgeglichen ist, hatte er vor dem Match bereits zu verstehen gegeben, als er über sein ewiges Thema, die von ihm so empfundene öffentliche Vorzugsbehandlung von Roger Federer und Rafael Nadal klagte. Auf dem Platz schwankte gegen Zverev, wie schon gegen Taylor Fritz und Milos Raonic in den Runden zuvor, sein Niveau wie ein Schiff auf hoher See. Bei 1:3 zerhackte Djokovic seinen Schläger, der zersplitterte; eine Turnier-Helferin musste die Reststücke zusammenfegen. Bei 4:1 schien Zverev diesen Satz im Griff zu haben, doch der rätselhafte Herr Djokovic schaufelte alles ins Feld, in einer Welle sicherte er sich Satz vier, 6:4. Ohne überzeugt zu haben. Djokovic hat die Gabe, Gegner wie ein Krake in sein Spiel zu saugen und ihnen ein Beruhigungsmittel zu versetzen.

Zverev machte eine Sache gut: Er nahm etwas Risiko aus seinem Spiel und ließ Djokovic mehr Fehler machen. Denn der bestimmte mit seinen Launen im Spiel den Verlauf dieser Begegnung. Im Guten wie im Schlechten. Im Grunde glich dieses Duell einer Schnitzeljagd. Einer der beiden irrte umher. 3:0 Zverev, 3:3. Bei 6:5 Satzball Zverev, doch das Ass von Djokovic. Tie-Break. Beim 6:5 nun Matchball Djokovic, doch ein Rückhand-Slice ins Netz! Zweiter Matchball - und das Ass!

Die Außenseitergeschichte von Aslan Karazew ging bereits vor diesem Duell weiter. Der 27-Jährige ist seit mehr als zehn Jahren Profi, war ein guter Junior, in Wimbledon besiegte er mal Dominic Thiem, aus dem ja durchaus etwas geworden ist. Karazew indes schaffte es nie, sein Talent in größere Taten zu verwandeln. Bis jetzt. Im Spätsommer 2020 gewann er zwei Titel auf der Challenger Tour, beim ATP Cup vor diesen Australian Open war er im Team der russischen Mannschaft, die mit Daniil Medwedew und Andrej Rubljow den Titel errang. Die Trainingseinheiten dort hätten ihm viel Selbstvertrauen vermittelt, meinte Karazew noch nach seinen ersten Erfolgen beim Grand-Slam-Turnier dann. Es waren keine leeren Worte. Er besiegte auch den Argentinier Diego Schwartzman (ATP-9.), den Kanadier Felix Auger-Aliassime (19.) und am Dienstag eben Dimitrow.

Karazew hat nun neue Bestleistungen im Almanach verewigt: Er ist erst der fünfte Qualifikant im Halbfinale der Männer; Karazew hatte in Doha das aufgrund der Pandemie ausgelagerte Qualifikationsturnier gespielt. Er ist gar in der sogenannten Open Era, der Profi-Ära seit 1968, der erste Debütant bei einem Grand Slam, der bis in jene Runde vorstieß. Eine halbe Million Euro Preisgeld hat er bislang in seiner Karriere verdient. Bei den Australian Open sind ihm nun bereits 540000 Euro sicher.

Auf der Pressekonferenz nach dem Viertelfinale, das war schon skurril, musste er sich erst mal vorstellen als der große Unbekannte. So erfuhr die Tenniswelt: Er wurde in Wladikawkas geboren, lebte in Israel, später in Halle/Westfalen, Barcelona und nun in Minsk. "Ich versuche, einfach nur den Moment zu genießen", sagte Karazew, der auch gegen Dimitrow sein beeindruckend klares Grundlinientennis stringent durchgezogen hatte. Seinen Erfolg führt er besonders auf die Zusammenarbeit mit seinem Coach Yahor Yatsy zurück, der ihm vor allem mental geholfen habe. Damit werden sicher zwei Russen im Halbfinale der Australian Open sein, denn Medwedew und Rubljow standen sich ja am Mittwoch (Ortszeit) auch noch in einem Viertelfinale gegenüber.

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