Süddeutsche Zeitung

Das Sportjahr 2020:Klebedusche aus der Aludose

Lesezeit: 7 min

Aufschlag im Steffi-Graf-Stadion, Hitzeschlag bei Olympia und natürlich sollte keinen der Schlag treffen, wenn Heidenheim aufsteigt und Leipzig plötzlich Meister ist. Gewagte und weniger gewagte Prophezeiungen für das Sportjahr 2020.

Von SZ-Autoren

Spektakel mit Abrissbirne

Wenn der erste große Kampf eines Jahrzehnts als Maßstab für die ganze Dekade gelten darf, stehen dem Schwergewichts-Boxen aufregende Jahre bevor. Die Zehnerjahre zum Beispiel hatten begonnen mit der Titelverteidigung des hochseriösen Modellathleten Wladimir Klitschko gegen den kleinen, nicht ganz modellathletischen Amerikaner Eddie Chambers, der fürchterlich nur in der Hinsicht war, dass er fürchterlich nett war. Die Zehnerjahre waren folglich geprägt von Fitness und Strategie - sie waren ein bisschen langweilig. Das erste große Duell der Zwanzigerjahre dagegen ist ein packendes, unvorhersehbares: Am 22. Februar treffen in Las Vegas Deontay Wilder, Weltmeister der WBC, und Tyson Fury aufeinander, zum zweiten Mal, der erste Kampf endete unentschieden. Wilder hat Abrissbirnen in den Handschuhen, seine Kämpfe enden oft mit einem spektakulären Knockout. Fury ist ein gefürchteter Stratege, auf eine mitunter komödiantische Art, mit der er sich auch selbst überrascht. Der Sieger des Duells wird wohl Anthony Joshua herausfordern, den Weltmeister der anderen drei Verbände, der aber noch den Geist der Zehnerjahre in sich trägt: Sein Mentor ist Wladimir Klitschko.

Dosen ohne Weißbier ¶

Was verbindet den 6. April mit dem 7. April? Abgesehen von der kalendarischen Nachbarschaft handelt es sich um zwei wichtige Daten in der Historie des FC Bayern. Am 6.4.2013 sowie am 7.4.2018 gönnten sich die Fußballer dieses sehr großen Klubs wenn zwar noch keine Weißbierdusche, so doch zumindest ein Weißbier, um mitten in der Saison ihren Meistertitel zu feiern. Überboten wurde die dramatische Spannungslosigkeit dieser Jahre nur von der sog. Osterhasenmeisterschaft, die die Bayern am 25. März 2014 begehen durfte. In vergangenen Jahrhunderten, als es noch echte Winter und echte Bayern-Gegner gab, hätte man vermutlich von einer Schneemannmeisterschaft gesprochen.

Nun aber zurück ins Jahr 2020, das die angenehm abwehrgeschwächten Münchner Seriensieger im Meisterschaftskampf der Fußball-Bundesliga eingebettet zwischen den Titelkandidaten Leipzig, Gladbach und Dortmund beginnen. Auch wenn man seine Rechnung nie ohne den bairischen Osterhasen machen sollte, gibt es gute Gründe, sich auf die spannendste Rückrunde seit Erfindung der Weißbierdusche zu freuen. Und falls am Ende ein neuer Meister mit Klebebrause aus der Aludose duscht, dann darf man im Sinne der Abwechslung über diese kleine Kulturlosigkeit hinwegsehen.

Immer nur Schmidt

Als Frank Schmidt am 17. September 2007 das Traineramt beim Fünftligisten 1. FC Heidenheim übernahm, wurden die Erstligisten VfB Stuttgart und Hamburger SV gerade von Armin Veh und Huub Stevens trainiert. Man sollte dazu sagen, dass Veh in Stuttgart und Stevens in Hamburg war, man kann das unmöglich auswendig wissen, weil beide ja sowohl in Stuttgart als auch in Hamburg waren. Irgendwann davor (oder danach?) war auch noch Bruno Labbadia in Stuttgart und Hamburg, man könnte das jetzt nachschauen und würde dabei auch auf Namen wie Babbel, Schneider, Zorniger, Kramny, Luhukay oder Korkut (Stuttgart) bzw. Oenning, Arnesen, van Marwijk, Zinnbauer, Hollerbach oder Titz (Hamburg) stoßen, oder auf Hannes Wolf, der selbstverständlich auch bei beiden Klubs war. Je 20 Trainer haben der VfB und HSV seit September 2007 beschäftigt, alle Interimslösungen mitgerechnet. In Heidenheim war immer nur Frank Schmidt.

In Heidenheim wurden seit September 2007 nur die Ligen gewechselt, von der fünften ging es in die vierte in die dritte in die zweite. Aktuell liegt der 1. FC Heidenheim in der 2. Bundesliga auf Platz vier, nur einen Punkt hinter VfB und HSV. Das wäre eine Geschichte: Wenn ein von zwei örtlichen Unternehmen unterstützter Klub aus einer Kleinstadt auf der rauen württembergischen Ostalb mitsamt des Kulttrainers Schmidt in die erste Liga einzöge. Im ersten Spiel im neuen Jahr spielen die Heidenheimer übrigens beim VfB, der gerade wieder einen neuen Trainer hat, der - Moment, mal nachschauen - Pellegrino Matarazzo heißt.

Battle of Los Angeles

Wer durch die Katakomben dieser Arena im Stadtzentrum von Los Angeles läuft, der bekommt an den Wänden mitgeteilt, was die Welt alles noch nicht gesehen hat - bevor es hier passiert ist: das Konzert von Barbara Streisand 2006 mit Weltrekord-Einnahmen von 5,4 Millionen Dollar, die Beerdigung von Michael Jackson 2009, die 33 Hochzeiten während der Grammy-Verleihung 2014. Boxkämpfe, Meisterschaften in Eishockey und Basketball, Award-Shows. Mehr als 4500 Veranstaltungen hat es seit der Eröffnung vor 20 Jahren gegeben, im Schnitt also 225 pro Jahr.

In diesem Jahr könnte eine Veranstaltung dazu kommen, die die Welt tatsächlich noch nicht gesehen hat. Die beiden Basketball-Vereine L.A. Lakers und L.A. Clippers teilen sich diese Halle, bisweilen tragen sie am gleichen Tag darin ihre Heimspiele aus. Und nun sind beide Teams zum ersten Mal in der Geschichte gut genug, dass sie sich in den NBA-Playoffs (19. April bis 5. Juni) begegnen dürften. In der Stadt bereiten sie sich schon auf diese mögliche Sieben-Spiele-Serie im Frühling vor: Showtime-Lakers gegen Grand-Theft-Auto-Clippers. LeBron James gegen Kawhi Leonard. "Battle of LA" wird das Duell genannt, die Akteure nennen es lieber "Hallway Series" - man braucht gerade mal 35 Schritte von einer Umkleidekabine zur anderen.

Berliner Festakt im Mai

Das Stadion kann nichts dafür. Hitlers Arbeitssklaven formten diesen Bombast aus Kalkstein und Granit. Der Mensch sollte klein, das Berliner Olympiastadion einschüchternd groß wirken. Das gelingt bis heute, auch wenn zur WM 2006 ein moderner Hut, ein durchsichtiges Dach draufkam. Im Winter ist es kalt, im Sommer zieht's. Mit 63 Prozent Auslastung bei Heimspielen von Hertha BSC ist es - trotz Klinsmann-Effekt - relativ gesehen das schlechtbesuchteste der Liga-Hinrunde.

Zum Glück gibt es das DFB-Pokal-Finale (23. Mai), jenen Tag im Frühsommer, an dem es im Olympiastadion auch mal schön bunt sein darf, sobald der Zuschauer das Einschüchternde aus den Gedanken streicht. Bloß: Das Finale wird gerade ab 2021 neu ausgeschrieben, die Münchner, die eh schon immer den Pokal entführen, haben Interesse. Seit 1985 war dieser Festakt des Fußballs schon dauerhaft in die Hauptstadt vergeben, daran darf und wird sich nichts ändern: Berlin, Berlin, wir bleiben in Berlin!

Aufschlag an der Hundekehle

Und gleich noch mal Berlin: Prinzessin Louise Sophie von Preußen bewies hier einst vorzüglichen, geradezu majestätischen Geschmack, als sie um 1900 dem Tennisverein LTTC Rot-Weiß Berlin dieses Grundstück vermittelte: Mitten im Grunewald, am Hundekehlesee, wo die Enten gründelten. Hier - nur ein paar Kilometer vom Olympiastadion entfernt - spielte der LTTC, gegründet als Turnierclub, später jahrzehntelang Meisterschaften aus, zuletzt von 1979 bis 2008 die German Open, das hierzulande wichtigste und auch schönste internationale Frauentennisturnier. Dann wurde es auch dem letzten externen Veranstalter aus Katar zu teuer, und Ruhe senkte sich auf das Steffi-Graf-Stadion am See. Jetzt wird die Tradition frisch belebt: Vom 13. bis 21. Juni werden die Grass Court Championships Berlin ausgespielt, ein Wettbewerb nicht mehr auf rotem Sandbelag, sondern auf drei neuen Rasenplätzen. Und weil es sich nun um ein Vorbereitungsturnier für Wimbledon handelt, wird wieder Weltklasse-Tennis in Berlin erwartet. Gesät wurde bereits im Oktober. Seitdem weiß man: Da wächst was in Berlin!

Spitzenspiel in München

Gäbe es unter deutschen Fußball-Freunden eine Wahl, wer sich für die Führung des Weltverbandes besser eignet, der Fifa-Chef Gianni Infantino oder der "Traumschiff"-Kapitän Florian Silbereisen, bräuchte man die Abstimmung nicht abzuwarten. Das Ergebnis stünde vorher fest. Allerdings könnte wohl auch ein Fifa-Präsident Silbereisen nicht mehr verhindern, dass die nächste Weltmeisterschaft in Katar stattfinden wird - es gibt Verträge und Verpflichtungen. Ein guter Grund, sich umso mehr auf die nächste Fußball-Europameisterschaft (12. Juni bis 12. Juli) zu freuen, die zwar keine richtige Heimat hat mit ihren Spielorten in zwölf europäischen Städten, aber trotzdem ein seriöses Turnier ist. Für Deutschland und Bundestrainer Jogi Löw beginnt der Wettbewerb in der Münchner Arena mit dem schicksalhaften Spitzenspiel gegen den Weltmeister Frankreich. Griezmann, Mbappé, Pogba ... 90 mindestens nervenzerfetzende Minuten, in denen garantiert niemand an Katar denken wird.

Aufstand der Anständigen

Dass es im olympischen Sport nicht nur Scheinwerferlicht gibt, sondern auch viel Schatten, hat sich beim Publikum herumgesprochen. Gedopt wird nicht nur in Russland oder China, weil es aber weiter auch der schöne Schein ist, der die Kassen der Verbände und Vermarkter füllt, läuft, springt und schwimmt der Generalverdacht weiter mit. Aber wenn im Sommer in Tokio die Olympischen Sommerspiele stattfinden (24. Juli bis 9. August), wird einer wohl fehlen: Sun Yang, 28, Multi-Olympiasieger im Schwimmen. Gegen den Chinesen hatte es schon 2016 in Rio eine Art Aufstand am Beckenrand gegeben ("der pinkelt lila") - dass Sun Yang Ende 2018 auch noch eine Dopingprobe mit einem Hammer zerstören ließ, steigerte die Wut vieler Schwimmer weiter. Wohl Ende Januar wird der Internationale Sportgerichtshof Cas ein Urteil verkünden, dass die Richter Sun Yang einfach weiterschwimmen lassen, erscheint kaum vorstellbar. Sogar dies ist dann möglich: dass in Tokio ein junger Deutscher, Florian Wellbrock, 22, aus Magdeburg, auf jenen 1500 Metern Freistil triumphiert, über die Sun Yang bis heute den Weltrekord hält (14:31,02 Minuten). Wellbrock wurde 2019 in Südkorea Weltmeister. Sun Yang wurde ausgepfiffen.

Es ist noch schwer abzuschätzen, was das für Spiele werden in Tokio. Die Hitze ist ein Problem, die Kosten explodieren, Korruption ist ein Thema. Und die Doping-Bekämpfung sieht wohl mal wieder so aus, dass Russland wegen fortgesetzter Manipulationen nicht als "Russland (RUS)" sondern als "Olympische Athleten aus Russland (OAR)" starten muss. Aber es tut sich auch was: Athleten begehren auf, gegen zwielichtige Konkurrenten und untätige Funktionäre. Der Sport braucht diesen Aufstand der Anständigen, und die meisten Anständigen finden sich eben doch unter den Athleten.

Schluss mit Ettikette

Und hier nun ein paar Prognosen für den 43. Ryder Cup (25. bis 27. September). Die Sportart: offiziell Golf, inoffiziell diesmal aber mehr denn je eine Mischung aus Boxen, Ringen, Catchen (ohne Würgegriffe, immerhin). Die Emotionen: stürmisch wie ein aufgewühltes Meer. Die Fairness: welche Fairness? Nach neun Niederlagen in den letzten zwölf Duellen ist für das Team USA nun Schluss mit feiner Etikette. Die zwölf Profis ihres Landes wollen die Auswahl des Teams Europa im wichtigsten Mannschaftswettbewerb endlich wieder besiegen. Und schon gar nicht mehr eine Schmach wie 2018 erleben, als in Paris die "U-S-A"-Rufe am Ende verstummten. Fünf Wochen vor der US-Präsidentschaftswahl dürfte es sich zudem der auch Golf-Verrückte Donald Trump nicht nehmen lassen, als Einpeitscher vorbeizuschauen. 100 Kilometer nördlich von Milwaukee, am Michigansee, auf dem schweren Straits Course im Club Whistling Straits, wird der Patriotismus aufblühen wie lange nicht. Europas Spieler sollten Ohrenstöpsel mitnehmen.

Rot ist die Hoffnung

Ferrari hätte den Titel mal wieder verdient. Also das Auto, der rote Rennwagen, La Macchina, wie sie ihn in Maranello nennen. Seit 2009, seit elf Jahren, tragen entweder seine Konstrukteure die Schuld an der titellosen Ära. Oder die Fahrer, die ihn nicht unfallfrei genug über die Ziellinie der Saison gesteuert bekamen. 2020 dürfte es dem Rennwagen mal wieder völlig egal sein, wer ihn zur Formel-1-Weltmeisterschaft steuert: Sebastian Vettel, der viermalige Weltmeister, oder der junge Charles Leclerc, der in seiner Praktikantensaison in jeder Kategorie schneller war als Vettel. Hauptsache, sie rempeln ihn nicht unnötig von der Piste, wie es im vorletzten Rennen der Saison in Interlagos geschah. Ob einer der Piloten imstande sein wird, den Siegesrausch von Lewis Hamilton zu unterbrechen, wird maßgeblich davon abhängen, ob Teamchef Mattia Binotto die interne Hierarchie moderiert bekommt. 2019 gelang ihm das nicht überzeugend. Nach 2020 verpasst sich die Formel 1 ein neues Reglement. Die Autos bekommen zwar noch keine Elektromotoren unter die Haube geschraubt, aber sie werden dann kaum wiederzuerkennen sein. Nicht nur dem alten, roten Ferrari dämmert es, dass ihm vielleicht nicht mehr viele Chancen auf den Titel bleiben. Bevor ihm, der Tag wird irgendwann kommen, jemand den Verbrennungsmotor ausbaut, geht er lieber in Frührente.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4744023
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 04.01.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.