Süddeutsche Zeitung

Abschied vom Heimatklub:Raus aus der Familie

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Beispiel Julian Draxler: Im Traditionsklub Schalke wurde der Druck zu groß. Das Umfeld bürdet den Talenten zu viel Verantwortung auf.

Kommentar von Philipp Selldorf

Julian Draxler hat jetzt die ersten Interviews gegeben, nachdem er vom FC Schalke 04 zum VfL Wolfsburg gewechselt ist. Dem Mann von der Wolfsburger Allgemeinen Zeitung hat er unter anderem gesagt: "Mit Perisic und De Bruyne sind zwar zwei sehr gute Spieler nicht mehr da, aber es wurde ja Qualität nachgekauft. Das können Sie ruhig so aufschreiben." In Fällen wie diesen, wenn der Interviewte eine ironische Anspielung macht, die missverstanden werden könnte, setzen Zeitungen gern ein in Klammern gesetztes "lacht" hinzu. So steht es auch hier: Draxler (lacht). Schön, dass ihm das wieder gelingt. In Gelsenkirchen hat man sein lockeres Lachen und selbstbewusste Bemerkungen zuletzt vermisst. Da machte er einen angestrengten Eindruck.

Draxler hat in den vergangenen Jahren erlebt, wie schwer es ist, von der eigenen (Fußball-)Familie bewundert und geliebt zu werden. Im Alter von 17 Jahren stand er erstmals mit den Schalker Profis auf dem Platz, schon im dritten Spiel schoss er ein Bilderbuchtor, das bis zu seinem Fortgang regelmäßig im Stadion gezeigt wurde. Weil dieses Tor symbolhaft für das Versprechen stand, das Draxler verkörperte - er war ein Spieler, wie ihn sich alle dort immer gewünscht hatten: Vor der Haustür geboren, Schalker seit Kindesbeinen, begnadeter Fußballer, gescheit und gutaussehend, ideal vermarktbar.

Jetzt hat Draxler gestanden, dass ihm das im Laufe der Zeit alles zu viel wurde: Das einerseits herrliche und andererseits erschreckende Schalker Gefühlsleben, die fanatische Hingabe so vieler Leute an diesen Verein, und die Hoffnungen und Erwartungen, die sie auf ihn gerichtet hatten. Als er im vorigen Frühling nach sechs Monaten Verletzungspause wieder mitspielen konnte, kam er in eine Mannschaft, die sich in eine fundamentale Formkrise gespielt hatte. Aber es war dann vor allem Julian Draxler, den nach ein paar Teilzeiteinsätzen die wütenden Fans anbrüllten, dass er kein echter Schalker wäre. Diese Beschimpfungen haben ihn, wie er nun erzählt hat, getroffen und in seinem Entschluss bestärkt. Wenig später ging er zum Manager und sagte ihm, dass er den Verein verlassen wolle. Horst Heldt hat es versucht, aber den Wunsch hat er ihm nicht ausreden können.

Dass er als Ziel seiner Flucht schließlich den VfL aus Wolfsburg gewählt hat, das haben viele Schalker nicht verstehen können und schon gar nicht verstehen wollen. Nach Turin - okay, London oder Madrid sowieso, aber der Provinzklub Wolfsburg? Eben deswegen. Dem einen - Kevin De Bruyne - war Wolfsburg zu klein geworden, bei Draxler ist es umgekehrt. Ihm gefällt es, dass er hier "alles etwas kleiner und ruhiger" antrifft. Sein Fall sollte den gekränkten Hinterbliebenen im Gelsenkirchener Traditionsklub zu denken geben - bevor sie Max Meyer, Leroy Sané und anderen Schalke-Talenten wieder zu viel zumuten. Die Nachwuchspflege hört nicht auf, wenn die Spieler bei den Profis angekommen sind.

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Quelle:
SZ vom 11.09.2015
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