Süddeutsche Zeitung

New York:Treppenwitz ohne Joker

Lesezeit: 3 min

Früher zu gefährlich, heute Instagram-Hotspot: Touristen tanzen wie "Joker" Joaquin Phoenix eine Treppe in der Bronx hinab - und nerven schon die Anwohner.

Von Johanna Bruckner, New York

Im Blockbuster "Joker" vergehen knapp zehn Minuten, bis sich Hauptdarsteller Joaquin Phoenix zum ersten Mal die 132 Stufen hochschleppt. Da hat die Metamorphose zum titelgebenden Schurken gerade erst begonnen. Noch ist Arthur Fleck, der sich bald in den "Joker" verwandeln wird, eine Witzfigur. Ein Clown zum Buchen, geplagt von psychischen Störungen, dessen Lachen keine Provokation ist, sondern ein Krankheitssymptom. Gleich in der ersten Szene des Films bezieht Fleck Prügel. Zwischenmenschliche Situationen enden nur in seinem Kopf mit einem Happy End. In der Realität scheitert sein Versuch, normal zu wirken, ein ums andere Mal. Die 132 Stufen, die Fleck auf dem Nachhauseweg hinaufsteigen muss - sie sind ein Symbol für die quälende Vergeblichkeit seiner Mühen.

Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass ausgerechnet dieser Teil der Kulisse von "Gotham City" nun zum Anziehungspunkt auf Instagram avanciert. Die Treppe im New Yorker Stadtteil Bronx, zwischen Shakespeare und Anderson Avenue, ist die jüngste Attraktion der Stadt. Filmfans und Like-Jäger lassen sich auf den grauen Stufen fotografieren. Mal im Clownskostüm in "Joker"-Pose, mal mit dutzendfach geübtem Lächeln. Hashtag: "JokerStairs".

Andere Kleidung, ähnlicher Tanz: Eine Touristin imitiert den "Joker".

So sieht der Anziehungspunkt einer Scheinwelt aus.

Natürlich haben sich längst auch Graffiti-Künstler an der Treppe verewigt.

Ein mexikanischer Tourist am oberen Ende der "Joker Stairs".

Ein Mann, der ermattet auf halber Höhe der Treppe pausiert, wird von seinen Freunden angefeuert: "Komm schon, Rocky, push, push, push!" Eine Anspielung auf die Boxerfilme mit Silvester Stallone - auch hier spielte eine Treppe eine zentrale Rolle. Die Stufen vor einem Museum in Philadelphia heißen seitdem "Rocky Steps" und werden in Stadtführern als Sehenswürdigkeit empfohlen. Ob die "Joker Stairs" diesen Status erreichen, bleibt abzuwarten. New York ist reich an Plätzen, die man gesehen haben muss.

In die Lokalpresse haben es die 132 Stufen auch schon geschafft, die Stadtmagazine Timeout und Gothamist haben berichtet, ebenso New York Times und New York Post. Sogar ein erstes Politikerstatement war zu hören. Alexandria Ocasio-Cortez, demokratische Abgeordnete aus der Bronx und eine Art junger, weiblicher Gegenentwurf zu Bernie Sanders, sagte: Sie erinnere sich noch an Zeiten, in denen der Treppenaufgang zu gefährlich gewesen sei, um ihn allein hinaufzusteigen. Eine "No-go-Area" ist die Bronx zwar längst nicht mehr. Ein Besuchermagnet ist aus dem Stadtteil nördlich von Manhattan aber trotzdem nicht geworden.

Touristen kommen für ein Baseballspiel im "Yankee Stadium" hierher oder für einen "typischen" Gospel-Gottesdienst. Auch die Treppe im Viertel Highbridge könnte etwas über das authentische Amerika erzählen. Über jenes Amerika, in dem eine Politikerin wie Ocasio-Cortez wegen ihrer ambitionierten sozialpolitischen Agenda schon mal als "rote Gefahr" geschmäht wird. Dem US-Zensus zufolge ist keine andere Gegend Amerikas so divers wie die Bronx.

Die meisten Menschen, die hier leben, haben keine weiße Hautfarbe. Wohnraum ist hier tatsächlich noch bezahlbar, weil die Einkommen gering sind. Doch um Dinge wie die soziale Spaltung geht es natürlich nicht beim aktuellen Instagram-Hype.

Ein Anwohner namens Wayne House, leuchtende Augen, Supermarktkassen-Wodka in der Hand, freut sich über Besucher mit deutschem Akzent. Sobald er seinen nächsten Gehaltsscheck habe, wolle er sich den Film auch angucken, sagt er. "Damit ich weiß, worüber alle reden." Ein anderer Mann hofft auf gute Geschäfte für umliegende Läden und Cafés.

"Das ist nicht die Realität"

Doch nicht alle können dem Selfie-Tourismus Positives abgewinnen. An Laternenpfosten hingen zwischenzeitlich schon Flyer. "Es ist respektlos, unsere Nachbarschaft und ihre Bewohner wie eine Foto-Kulisse zu behandeln", war darauf zu lesen. Inzwischen sind die Protestplakate wieder verschwunden. Mancher vermutet, dass dasselbe auch mit den Besuchern passieren wird.

Darlene Rodriguez, die die Stufen jeden Tag hinaufgeht, sagt: "Mich stören die Leute nicht, aber das ist nicht die Realität." Rodriguez meint die schäbig-schillernde Aura, die die Comicverfilmung der Treppe verliehen hat.

Die schmucklosen Häuser zu beiden Seiten, das Geländer, abgenutzt; das Zwielicht selbst an einem strahlenden Oktobertag - alles erscheint plötzlich hollywoodesk. Der "Joker" tanzt schließlich zu Gary Glitters "Rock 'n' Roll, Part 2" die Stufen hinunter. Er hat sich freigemacht von allen gesellschaftlichen Normen. Aber ist das eine Option im echten Leben?

Wayne House, der Mann, der auf seinen nächsten Gehaltsscheck wartet, um den "Joker" zu sehen, hat zum Abschied eine Bitte: Ob man ihm nicht einen Job besorgen könnte?

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Quelle:
SZ vom 26.10.2019
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