Die russische Bevölkerung hält den kollektiven Westen für eine Bedrohung. Wieso ist das so?

Eine Datenanalyse von Millionen Artikeln eines russischen Staatsmediums zeigt die Methoden, mit denen die öffentliche Meinung gezielt beeinflusst wird.

Wie der Kreml das Bild des Westens zeichnet

17. November 2023 - 5 Min. Lesezeit

Juri Mesinow ist ein Lokalpolitiker in der Region Rostow am Don. Bei Telegram führt er einen eigenen Kanal, in dem er seine Gedanken zum politischen Geschehen teilt. Mesinow schreibt am 15. Mai, er finde, die „Europäer sind wirklich wahnsinnig und haben sich vorgenommen, unser Land in einem konventionellen Krieg zu zerreißen“.

Dieses Zerrbild des Westens ist kein Zufallsprodukt, sondern das Ergebnis einer Propagandastrategie, die russische Staatsmedien seit Jahrzehnten verfolgen. Journalistinnen der Süddeutschen Zeitung haben in Kooperation mit dem russischen Medium Nowaja Gaseta. Europa und der Plattform Dekoder mehrere Millionen Artikel der größten russischen staatlichen Nachrichtenagentur Ria Nowosti (Ria) analysiert. Die Texte aus mehr als 20 Jahren zeigen, mit welchen Methoden die russische Propaganda arbeitet.

Die Folgen der Sanktionspolitik

Als Olaf Scholz 100 Tage im Amt ist, veröffentlicht Ria einen Artikel über das „Ende der Ära Merkel“. Darin wird Präsident Putin indirekt zitiert – mit dem Satz: „Ihm zufolge ist es das Hauptziel des Westens, das Leben von Millionen Menschen zu verschlechtern.“

Putins Aussage steht am 17. März 2022 erstmals in einem Ria-Artikel, in dem es um Russlands Beziehung zu Deutschland geht. Er wird am selben Tag in einem weiteren Artikel auftauchen. Das Thema diesmal: die Handelssanktionen der USA. Seitdem wiederholt sich der Satz mehr als 1100-mal. Zum vorerst letzten Mal wird er im Juli 2023 verwendet.

In welchem Bezug Putin den Satz gesagt hat, steht in den Artikeln in der Regel nicht. Der Satz dient als finale Pointe, die im Zusammenhang mit Handelssanktionen gegen Russland eingebettet wird – unabhängig davon, von welchem Land sie verhängt wurden. Aus Sicht des Kreml schaden die Sanktionen der gesamten Weltwirtschaft. Westliche Länder nähmen also in Kauf, das Leben von Millionen Menschen zu verschlechtern.

Aus russischer Sicht ist der Westen keine heterogene Gruppe aus verschiedenen Ländern oder Weltanschauungen. „Kein europäischer Staat wird von Russland als unabhängig betrachtet“, erklärt Sabine Fischer, die bei der Stiftung Wissenschaft und Politik zu russischer Außenpolitik forscht. Stattdessen spreche man vom „kollektiven Westen“, von einem Staatenkonglomerat, das von den USA fremdbestimmt werde. Es gelte in Russland: „Alle europäischen Staaten und die Nato-Staaten außer den USA sind Anhängsel und Marionetten Washingtons.“

Die ständige Wiederholung von Behauptungen zeigt tatsächlich Wirkung

Auf diese Überzeugung in der eigenen Bevölkerung arbeitet der Kreml seit Jahren hin, indem die ideologischen Sätze wie Mantras vorgetragen werden. Dass erklärende Sätze bei Nachrichtenagenturen wiederholt werden, ist üblich. Was die Arbeit von Ria von der anderer Agenturen unterscheidet, ist die ideologische Einfärbung der Wiederholungen und die Lebensdauer der Nachrichten. Ria setzt wertende Sätze teils jahrelang ein.

Die Erzählungen zur Sanktionspolitik sollen durch Wiederholung an Glaubwürdigkeit gewinnen. Dass Russland ihnen trotzen kann (mit einem „Dekret über die Anwendung bestimmter wirtschaftlicher Sondermaßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit“), wird fast 400-mal innerhalb eines Jahres wiederholt. Dass Putin seine Bürger vor den Sanktionsländern schütze und zurückschlage („Fleisch, Wurst, Fisch und Meeresfrüchte, Gemüse, Obst und Molkereiprodukte fielen unter das Embargo“), fast 400-mal in sieben Jahren. Und „dass die Politik der Eindämmung und Schwächung Russlands eine langfristige Strategie des Westens ist“, wiederholt sich im Laufe eines Dreivierteljahres tausendfach.

Warum Wiederholung wirkt, weiß Jonas De Keersmaecker. Der Psychologe untersucht an den Universitäten in Ghent und Barcelona ein Phänomen, das Fachleute „Wahrheitseffekt“ nennen. „Menschen glauben Informationen eher, wenn sie diese schon einmal gehört haben“, sagt er.

Der Westen als Unruhestifter

Während im April 2022 die deutsche Bundesregierung über Waffenlieferungen an die Ukraine nachdenkt, warnt der russische Außenminister Lawrow vor einem Spiel mit dem Feuer. Wie ein Feuer könne auch das Verhalten der Nato-Länder außer Kontrolle geraten, warnt der Kreml. Ria greift den Satz auf und wiederholt ihn innerhalb eines Jahres tausendfach.

Nicht nur beim Thema Waffenlieferungen erklärt Ria den Westen zum Unruhestifter. Das Ganze beginnt schon 1999 mit dem Kosovokrieg und wird im Laufe der Jahre immer aggressiver. 2011 machte die Agentur die westlichen Länder für das Chaos in Libyen verantwortlich. Im Zuge der Euromaidan-Proteste 2013 in der Ukraine soll der Westen einen Regimewechsel herbeigeführt haben, schlimmer noch: Er habe in der Ukraine ein faschistisches Regime geschaffen, das er steuert. Außerdem sei laut Ria der „kollektive Westen“ schuld an seiner Migrationskrise – weil er in Syrien Unruhe geschürt habe.

Ria nutzt den Wahrheitseffekt, um die Deutungshoheit an sich zu reißen. Die Erzählung, der Westen sei ein Unruhestifter, wird bei jeder Gelegenheit wiederholt. „Es ist ein Weg, das Framing von Ereignissen konsistent zu halten“, erklärt Julia Smirnova, Extremismusforscherin am Institut für strategischen Dialog in London.

Der Wortschatz von Ria ist geschrumpft, die Zahl emotionaler Begriffe aber gewachsen

Dabei sollen negative Gefühle geweckt werden: „Für Propaganda ist es sehr effektiv, Menschen Angst machende Informationen glauben zu lassen“, sagt De Keersmaecker. Eine SZ-Analyse zeigt: Der Anteil emotional geladener Wörter in den Texten von Ria hat in den vergangenen 20 Jahren zugenommen. Die emotionalsten Zeitpunkte liegen im Jahr der Krim-Annexion 2014 und im Jahr des russischen Angriffskriegs 2022. Umfragen des unabhängigen Lewada-Instituts ergeben, dass in diesen Jahren die Einstellung russischer Bürger gegenüber dem Westen besonders negativ war.

Gleichzeitig ist der Wortschatz, den Ria verwendet, in den vergangenen Jahren einer SZ-Analyse zufolge kleiner geworden. Ein Grund könnte sein, dass der Kreml zuletzt vermehrt Sprachregeln aufgestellt hat. Analog zu dem schwarz-weißen Weltbild, in dem Freund und Feind immer klar benannt sind, wird auch die Sprache der Texte immer einfacher.

Emotionen schüren, vereinfachen, wiederholen: Diese Methoden werden auch genutzt, um Russland als Gegenentwurf zum Westen zu präsentieren. Als Ort, so beschreibt es Julia Smirnova, „wo konservative Werte, die im Westen bedroht sind, noch gelten“ – etwa als Friedensstifter in der Ukraine, als Beschützer der Zivilbevölkerung.

Gegen den Wahrheitseffekt kann man sich nicht wehren

Die Propagandastrategien zu kennen, schützt nur bedingt vor ihnen. Gegen den Wahrheitseffekt könne man sich nicht wehren, sagt De Keersmaecker. Studien zeigten, dass der Effekt Menschen unabhängig von ihren Persönlichkeitsmerkmalen betreffe. „Das Einzige, was man tun kann, ist, die Wahrscheinlichkeit zu minimieren, falsche Nachrichten zu erhalten“, sagt er.

Den Nachrichten von Ria aus dem Weg zu gehen, ist in Russland allerdings schwierig: „Ria Nowosti ist wichtig, da ihre Texte auch über regionale Medien verbreitet werden“, sagt Julia Smirnova. Und auch, wer sich über die russische Suchmaschine Yandex informieren möchte, landet sehr wahrscheinlich bei Ria: Die Agentur gilt bei Yandex als die am meisten verbreitete Nachrichtenseite.

Wer in Russland lebt, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit den Kernaussagen von Ria begegnen und sie irgendwann auch glauben, so der Psychologe De Keersmaecker. An dem Bild vom Westen, das über Jahrzehnte gezeichnet wurde, lässt sich kaum rütteln.

Text und Daten: Berit Kruse, Natalie Sablowski, Marie-Louise Timcke, Digitales Storytelling: Thomas Gröbner, Editorial Design: Felix Hunger, Redaktion: Gökalp Babayiğit, Mitarbeit: Leonid A. Klimov, Roman Beketov