Süddeutsche Zeitung

Skandal um Wilke-Wurst:Scheibchenweise Wahrheit

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Sieben Wochen, bevor die Öffentlichkeit davon erfuhr, wussten Behörden, dass Wurstwaren des Herstellers Wilke lebensgefährlich sein können. Und noch immer ist das ganze Ausmaß des Skandals unklar.

Von Kerstin Lottritz und Helena Ott, München

Sechs Tage nachdem der Lebensmittelskandal beim Wurstwarenhersteller Wilke öffentlich wurde, fehlen immer noch genaue Informationen darüber, in welchen Kantinen, Theken oder Produkten Wilke-Wurst ausgegeben oder weiterverarbeitet wurde. Das Robert-Koch-Institut bringt zwei Todesfälle und 37 Krankheitsfälle in Südhessen in Verbindung mit verunreinigter Ware aus dem Haus Wilke. Die Staatsanwaltschaft Kassel hat ein Ermittlungsverfahren wegen des Anfangsverdachts der fahrlässigen Tötung gegen den Geschäftsführer von Wilke eingeleitet. Die Ermittlungen liefen auch wegen des Anfangsverdachts der fahrlässigen Körperverletzung und des Verstoßes gegen das Lebensmittel- und Futtergesetzbuch, sagte ein Sprecher der Behörde am Dienstag.

Die Verbraucherschutzorganisation Foodwatch schaltete nach eigenen Angaben das Verwaltungsgericht Kassel ein. Man wolle per Eilantrag erwirken, dass der zuständige Landkreis Waldeck-Frankenberg alle Informationen über Abnehmer von Wilke-Wurst herausgeben muss. Zudem übt Foodwatch massive Kritik: Die Lebensmittelkontrolle des Landkreises und das hessische Verbraucherschutzministerium hätten Konsumenten zu lange nicht über die verunreinigten Lebensmittel informiert. "Menschenlebenrelevante Informationen sind nur scheibchenweise und immer noch lückenhaft an die Öffentlichkeit weitergegeben worden", sagte Martin Rücker, Geschäftsführer von Foodwatch. Er kritisierte, dass nach Bekanntwerden des Skandals bis zur Betriebsschließung von Wilke und dem Rückruf der Ware am vergangenen Mittwoch mehr als sieben Wochen vergangen seien.

Das hessische Verbraucherschutzministerium bestätigte auf Anfrage der Süddeutschen Zeitung, dass es bereits am 12. August vom Bundesamt für Lebensmittelsicherheit über den Listerien-Verdacht in der Fertigung von Wilke informiert worden sei. Eine Sprecherin des Ministeriums wies aber darauf hin, dass ihre Behörde erst am 16. September erfahren habe, dass mit den Listerienfunden auch die Todes- und Krankheitsfälle in Südhessen in Zusammenhang gebracht werden.

Auf die Frage, warum dann nicht bereits Mitte September die Produktion von Wilke stillgelegt und der Rückruf der Waren gestartet wurde, sagte die Sprecherin, dass das gewählte Prozedere ein "ganz normaler Ablauf" sei. Unternehmen seien vor sofortigen Schließungen rechtlich geschützt und müssten erst die Chance bekommen, den Missstand abzustellen. Erst als nach einer Reinigung des Betriebs immer noch Listerien entdeckt wurden, habe man sich entschlossen, die Produktion des Wurstherstellers stillzulegen und Wilke zum Rückruf seiner Ware aufzufordern.

Wilke hat unter eigener Marke Würste und Aufschnitt verkauft, aber auch Großhändler beliefert und möglicherweise auch Wurst als Rohstoff an andere Lebensmittelhersteller verkauft. So könnte sich Wilke-Wurst auch in Tiefkühlpizzen, Wurstsalat oder Fertig-Hot-Dogs befinden. Trotz Drucks von Verbraucherzentrale und Foodwatch haben die Behörden die Zwischen- und Endabnehmer von Wilke-Produkten nicht öffentlich gemacht.

Gesunde Menschen bemerken die Aufnahme der Keime zum Teil gar nicht

Das hessische Verbraucherschutzministerium veröffentlichte am Montagabend eine Liste mit weiteren Markennamen, unter denen Wilke-Wurst verkauft wurde. Eine dem Ministerium vorliegende Liste von Abnehmern von Wilke-Ware und Zwischenhändlern halte die Behörde aber unter Verschluss, so Foodwatch. "Die Menschen müssen endlich wissen, welche Produkte und Verkaufsstellen genau betroffen sind", forderte Rücker.

Listerien sind aggressive Keime und finden sich ähnlich wie Salmonellen oft in tierischen Produkten. Bei Menschen mit geschwächtem Immunsystem und Schwangeren können sie tödlich sein. Besonders heikel ist im Fall von Wilke, dass das Unternehmen mit seinen 200 Mitarbeitern und über 1100 Produkten im Sortiment auch an Zwischen- und Großhändler geliefert hat, und diese Wurstwaren in Kantinen beispielsweise von Krankenhäusern gelangt sind.

In einer Rehaklinik in Köln wurde am Tag nach dem Rückruf noch Aufschnitt aus der Herstellung von Wilke an Patienten ausgegeben. In Kliniken ist es wahrscheinlicher, dass keimbelastete Wurst auch von Menschen gegessen wurde, die geschwächt sind und zur Risikogruppe gehören. Sabine Klein, Sprecherin der Verbraucherschutzzentrale Nordrhein-Westfalen, betont, dass nicht alle Ware von Wilke verunreinigt sein müsse, dies aber auch nicht auszuschließen sei: "Die Situation ist völlig intransparent und undurchsichtig."

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Quelle:
SZ vom 09.10.2019
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