Süddeutsche Zeitung

Wahl-Watcher zur Bundestagswahl:"Schulz muss klarmachen, wo er ideologisch steht"

Lesezeit: 7 min

Trump ist politisch unerfahren, aber er vermittelt eine klare Weltsicht, sagt die Sprachwissenschaftlerin Elisabeth Wehling. In der neuen Folge der Wahl-Watcher erklärt sie, was die SPD von Trump lernen kann.

Interview von Karin Janker

Nach drei Niederlagen bei Landtagswahlen in Folge versucht SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz nun, seine Partei für den Bundestagswahlkampf wieder aufzurichten. Inzwischen sind Teile des Wahlprogramms bekannt, wirklich konkret wurde es aber noch nicht. Kontrahentin Angela Merkel hat zwar inhaltlich bislang kaum mehr zu bieten, aber immerhin den Vorteil, dass sie sich bereits geraume Zeit als "Mutti der Nation" etablieren konnte. Für die kommende Wahl könnte dieser Spitzname eine entscheidende Rolle spielen, weil er unbewusste Vorstellungen von Politik anspricht, sagt die Sprachwissenschaftlerin Elisabeth Wehling. Sie beobachtet als Wahl-Watcher für die SZ den Bundestagswahlkampf. Wehling erforscht an der Universität Berkeley die Mechanismen politischer Sprache und wundert sich beim Blick auf Deutschland, warum es vielen Politikern hierzulande nicht gelingt, ihre moralischen Überzeugungen besser zu formulieren. US-Präsident Trump mache zwar faktisch viel falsch, aber in Sachen Selbst-Inszenierung sei er ein Meister.

SZ: Frau Wehling, die meisten Menschen glauben, dass die Entscheidung, bei welcher Partei sie am 24. September ihr Kreuz machen, auf einem rationalen Entschluss beruht. Sie würden da vermutlich widersprechen.

Elisabeth Wehling: Rationale Entscheidungen sind in der Politik äußerst selten. Die Forschung zeigt, dass in politischen Prozessen das Abwägen faktischer Informationen zwar nicht völlig unerheblich ist, aber definitiv an zweiter Stelle steht. Die meisten Menschen wählen nicht nach ihrem Eigeninteresse, also zum Beispiel die Partei, die ihnen Steuersenkungen verspricht, sondern gemäß ihren Werten und Moralvorstellungen. So stand es zum Beispiel dem Eigeninteresse vieler Amerikaner entgegen, für Trump und damit gegen Obamas Modell der Krankenversicherung zu stimmen - sie haben es aber trotzdem getan und dafür materielle Nachteile in Kauf genommen. Der Mensch entscheidet sich im Zweifel für seine Ideologie.

Ist Ideologie nicht etwas, was aufgeklärte Demokraten ablehnen?

Wir haben alle ein bestimmtes Weltbild, bestimmte Werte, einen moralischen Kompass, und diese bedingen die Art und Weise, wie wir uns einem Problem nähern. Es gibt demokratischen Streit nur, weil es unterschiedliche Ideologien gibt. Ginge es in der Politik ausschließlich darum, rationale Lösungen für faktische Probleme zu finden, gäbe es keine Wahlkämpfe: Im Wahlkampf geht es für Parteien darum, die eigene Ideologie, die man auf eine bestimmte Faktenlage anwendet, für die Mitbürger fassbar zu machen.

Gerade während des Wahlkampfs tun aber Parteien so, als ginge es darum, die materiellen Interessen bestimmter Wählergruppen anzusprechen: die SPD die der Arbeiter, die FDP die der Besserverdiener.

Das ist aber nur ein Teil - und zwar einer, der die meisten Wähler nur sekundär interessiert. Politiker streiten über unterschiedliche Lösungsmodelle, weil sie aus unterschiedlichen Perspektiven auf Probleme blicken. Ob eine Partei beispielsweise Steuern erhöhen oder senken will, hat weniger mit dem Kontostand der Staatskassen zu tun als damit, wie sie Steuern betrachtet: als Belastung oder als Beitrag fürs Gemeinwohl.

Schaut man sich die Rhetorik von SPD und Union an, so sprechen die Sozialdemokraten häufig von "Steuersenkungen", während bei Unions-Politikern eher von "Steuerentlastungen" die Rede ist.

Das ist bereits ein Beispiel für politisches Framing. Bezeichnet man Steuern als "Last", wird eine andere Vorstellung aufgerufen, als wenn man von "Steuerverantwortung" spricht. Ähnlich ist es bei der Formulierung, ob wir Steuern "zahlen" oder "beitragen": Im ersten Fall ist der Bürger Kunde des Staates, im zweiten Fall ist er Teil eines Kollektivs. Framing bedeutet, über Sprache bestimmte Bedeutungsrahmen aufzurufen, durch die dann eine bestimmte Faktenlage interpretiert und bewertet wird. Solche Frames sind auch deshalb so wirksam, weil sie nicht sofort erkennbar sind und unbewusst funktionieren. Spricht man beispielsweise von "globaler Erwärmung" statt von "Erdüberhitzung", so klingt der gleiche Sachverhalt weniger bedrohlich, weil "erwärmen" mit einer positiven Vorstellung verbunden ist, ganz anders als "Hitze".

Dass Metaphern wie jene von der Flüchtlingswelle politisch wirksam sind, leuchtet ein; im schlimmsten Fall sind sie sogar gefährlich, weil sie Ressentiments schüren können. Sollten sich Politiker also um eine möglichst neutrale Sprache bemühen?

Erstens ist eine neutrale Sprache nicht möglich, weil wir es in der Politik mit abstrakten Dingen zu tun haben, für die wir anschauliche Metaphern brauchen. Es wäre mal eine Herausforderung, sich hinzusetzen und eine Rede zur Steuerpolitik komplett ideologiefrei durchzuschreiben. Und zweitens helfen Frames den Wählern dabei, Politiker und Parteien mit ihrem eigenen Weltbild abzugleichen. Neutrale Sprache ist in der Politik also auch gar nicht erstrebenswert. Würde man als Politiker versuchen, eine gänzlich ideologie- und also metaphernfreie Sprache zu benutzen, wäre man auch ein Stück weit unehrlich: Politische Vorschläge entspringen ja immer bestimmten Wertvorstellungen, Sprache macht das transparent - oder eben nicht. Manchen Menschen ist es wichtiger, Disziplin und Eigenständigkeit zu fördern, andere finden Empathie und soziale Fürsorge wichtiger - schon haben wir es mit unterschiedlichen Ideologien zu tun. Man würde es seinen Wählern unglaublich schwer machen, wenn man solche Werte nicht mittransportiert.

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz wird momentan immer wieder mit der Forderung konfrontiert, er müsse endlich konkreter werden. Das wichtigste Schlagwort der SPD in diesem Wahlkampf lautet "soziale Gerechtigkeit". Was transportiert dieser Begriff?

Das ist ein sehr abstrakter Begriff, der tatsächlich erst noch gefüllt werden muss. Je nach Ideologie können mit "sozialer Gerechtigkeit" sehr unterschiedliche Dinge gemeint sein. Jeder kann sich selbst fragen, was er unter Gerechtigkeit versteht, in Bezug auf die eigene Familie zum Beispiel: Finde ich es gerecht, dass die Geschwisterkinder bekommen, was sie gerade brauchen, je nach ihrem individuellen Werdegang? Oder finde ich es gerecht, dass alle Geschwister eine Art Taschengeldpauschale bekommen und sich selbst verdienen müssen, was sie darüber hinaus brauchen? Das sind Fragen, die direkt unsere Moral ansprechen.

Schulz reagiert auf die Bitte von Journalisten konkreter zu werden häufig, indem er Probleme aus der Lebenswelt potenzieller Wähler anspricht. In einem ARD-Interview sagte er kürzlich, er wolle dafür sorgen, dass Kitas gebührenfrei sind, die Menschen weniger im Stau stehen und die Bahnen pünktlich kommen. Das klingt lebensnah, aber funktioniert das?

Konkret werden heißt nicht, aufzulisten, wie er das alltägliche Miteinander positiv gestalten möchte. Damit malt er zwar aus, wie es in einem SPD-geführten Land aussehen soll, aber wir wissen immer noch nicht, was er unter Gerechtigkeit versteht. Es fehlt also das Verbindungsstück zwischen dem abstrakten Begriff und der programmatischen Ausgestaltung im Alltag. Diese Verbindung gelingt durch ein wiederholtes klares Formulieren des eigenen Gerechtigkeitsverständnisses. Das wünschen sich die deutschen Wähler - und zwar zu Recht.

Was würden Sie Martin Schulz raten?

Schulz muss klarmachen, wo er ideologisch steht. Und das auch nach innen in die Partei hinein kommunizieren. Es gibt einige Dinge, die eigentlich sofort aus dem Vokabular der Sozialdemokratie gestrichen gehören, zum Beispiel die Metapher von "oben" und "unten" bei der Forderung, man müsse umverteilen.

Warum ist das problematisch?

Dahinter steht eine vertikale Vorstellung von Gesellschaft, die nicht nur bedeutet, dass "die da oben" mehr haben und mehr bestimmen können, sondern die zugleich mit einer moralischen Bewertung verknüpft ist. Denn "oben" ist in unserer Sprache eindeutig positiv assoziiert: Man schaut zu jemandem auf, man steht drüber, hat hehre Ziele, und so weiter. Eine Partei, die betonen will, dass alle Menschen gleich sind in Würde und Wert, sollte deshalb nicht solche metaphorischen Bilder bedienen.

Ist die momentane Krise der Sozialdemokratie auch eine Sprachkrise?

Eine Partei kann sich ideologisch entkernen, wenn sie sich mit ihrer Rhetorik von den eigenen moralischen Zielen entfernt, zum Beispiel indem sie die Sprache der politischen Gegner benutzt. Die Sozialdemokratie sollte die eigene Sprache hinterfragen und überprüfen, wo sie die eigenen politischen Ziele und Wertvorstellungen konterkariert. Um bei einem bereits genannten Beispiel zu bleiben: Sozialdemokraten sollten statt dem Wort "Steuerlast" den Begriff "Steuerverantwortung" verwenden - und zwar auch intern. Wobei natürlich politische Programmatik mit der Rhetorik Hand in Hand gehen muss: Die Ideen müssen nicht nur formuliert, sondern auch im Parteiprogramm umgesetzt werden.

Gilt diese Diagnose auch für die Grünen, die momentan nicht aus der Krise kommen?

Die Grünen formulieren ihren Anspruch, Menschen zu schützen, nicht ausreichend klar. Der Schutz von Wasser, Luft und Erdboden ist eigentlich der Schutz von Menschen, aber das transportieren die Grünen zu wenig. Die FDP dagegen macht, was das Framing angeht, gerade einen guten Job. Christian Lindner hat beispielsweise in der jüngsten Sendung von Anne Will den Begriff der "Kleptokratie" gesetzt - eine provokante Form des Framings, die bereits ausdrückt, dass der Staat sich mit Steuern an seinen leistungsstarken Bürgern bereichert. Mit dem Begriff erregt der FDP-Chef nicht nur Aufmerksamkeit, sondern transportiert gleichzeitig bereits seine Weltsicht mit. So gelingt es der FDP, wieder Teil der ideologischen Debatten zu werden.

Bei Ihrem Auftritt auf der diesjährigen Republica-Konferenz in Berlin haben Sie von kognitionspsychologischen Experimenten berichtet, die den Wahlerfolg des politisch recht unerfahrenen Hardliners Donald Trump erklärbar machen. Sie heben in Ihrem Vortrag auf den Kosenamen "Big Daddy" ab - welche Bedeutung hatte dieser Name für Trumps Wahlerfolg?

Wir alle nutzen die Familie als metaphorisches Fundament, um über Politik nachzudenken. Unsere Experimente zeigen: Wer strenge Familienmodelle bevorzugt, wählt eher konservativ, wer ein fürsorgliches Familienbild hat, befürwortet eher eine empathische Politik. Die beiden Politikstile lassen sich gut an Trump und Obama ablesen. Donald Trump hat es sich zunutze gemacht, dass es viele unentschiedene Wähler gibt und sich wirksam als strenge Vaterfigur inszeniert, während er Hillary Clinton wiederholt als "nasty woman" bezeichnet und sie damit moralisch abgewertet hat.

Familienmetaphern gibt es auch hierzulande in der Politik: Angela Merkel trägt den Spitznamen "Mutti Merkel" - schadet oder nützt ihr der?

Dieser Name nützt ihr ungemein.

Inwiefern?

Weil er ihre Rolle als "Mutter der Nation" immer wieder legitimiert - übrigens selbst dann, wenn der Name eigentlich abwertend gemeint ist. Merkel füllt den Begriff auch erfolgreich mit einer Politik, die sowohl streng als auch fürsorglich ist. Dass "Mutti Merkel" in aller Munde ist, bedeutet: Sie muss gar nichts mehr dafür tun, dass wir sie fortlaufend in die unbewusst wirksame Familienmetaphorik einordnen.

Gegen "Mutti Merkel" wird es wohl schwierig für einen "Vati Schulz".

Martin Schulz hat in diesem Familien-Frame wohl tatsächlich keine Chance, Merkel zu verdrängen in dem Sinne, dass er sich jetzt sprachlich als "Vati Schulz" stilisiert. Da er als Sozialdemokrat von einer politischen Ideologie der Fürsorge her kommt, kann er auch nicht wie Trump oder Erdogan den autoritären Vater verkörpern. Er muss also andere Frames und Metaphern für seine Politik prägen, die sich unter anderem aus dem fürsorglichen Familienmodell, der fürsorglichen Weltsicht speisen. Das wird die Aufgabe der SPD in den kommenden Wochen.

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Elisabeth Wehling, geboren 1981 in Hamburg, ist Sprach- und Kognitionswissenschaftlerin an der Universität Berkeley. Sie erforscht, wie politische Sprache und Ideologien wirken, unter anderem mit Hirnscans. In ihrem Buch Auf leisen Sohlen ins Gehirn (zusammen mit George Lakoff, Carl-Auer-Verlag) zeigt sie die "heimliche Macht" politscher Sprache. Zuletzt erschien von ihr der Bestseller "Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet - und daraus Politik macht" (von Halem Verlag).

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