Süddeutsche Zeitung

Wahl in Großbritannien:"Ich glaube Theresa May kein Wort"

Lesezeit: 5 min

Youtube-Star Owen Jones ist für Hunderttausende Briten eine linke Stimme der Vernunft. Der umtriebige Aktivist erklärt, wie er junge Leute für Labour begeistern will und der Brexit die politische Debatte vergiftet.

Von Matthias Kolb, London

Owen Jones ist überall und nirgends. In den Tagen vor der Parlamentswahl in Großbritannien scheint der 32-jährige Youtube-Star kaum zu schlafen, so aktiv ist er im Internet und in der echten Welt. Der britische Linksaktivist reist kreuz und quer über die Insel, um Labour-Politiker zu unterstützen und kommentiert auf Twitter im Minutentakt für seine 570 000 Follower das Geschehen im Wahlkampf. Daneben dreht er Videos für seinen Youtube-Kanal "Owen Talks", schreibt Kolumnen für den Guardian und moderiert dort den täglichen "Daily Election"-Podcast.

Im Anschluss an dessen Aufzeichnung sitzt Jones in der Cafeteria der linksliberalen Zeitung. Er hat Tee bestellt und berichtet über den laufenden Wahlkampf, der plötzlich sehr spannend geworden ist. Der große Vorsprung der konservativen Tories von Premierministerin Theresa May ist dahin, was den schlaksigen Mann mit den kurzen blonden Haaren ungemein freut. May habe es zur Kunstform gemacht, heute etwas zu sagen und später das genaue Gegenteil zu tun, sagt Jones.

"Ich glaube Theresa May kein einziges Wort", ruft er und zählt ihre Versäumnisse auf. Ihr Versprechen, keine Neuwahl auszurufen? Gebrochen. Ihre Ankündigung, die Netto-Einwanderung auf unter 100 000 pro Jahr zu senken? "Was immer man davon hält: Sie kommt nicht in die Nähe dieser Marke und verspricht es wieder." Brisant war die Debatte um die "Demenz-Steuer" - psychisch Kranke sollten sich laut Wahlprogramm der Tories mehr an den individuellen Pflegekosten beteiligen, um die Steuerzahler zu entlasten ( Details hier). Der Aufschrei war ohrenbetäubend, May musste eine Kehrtwende machen.

Dass May sich zu einer Königin der Kehrtwendungen entwickelt hat, da sind sich alle Beobachter einig. Aber Jones, der nahe Manchester geboren wurde, sieht sich sowieso nicht als Analyst, sondern als Aktivist. Stolz bezeichnet er sich als "Sozialist der vierten Generation" und will vor allem junge Briten für Politik interessieren. Also tritt er mit Popmusikern auf oder dreht Videos mit dem Reality-TV-Star Joey Essex ("der wusste nicht mal, wer Premier ist, als wir anfingen"). In seinen Videos wendet er sich stets direkt an seine Fans - sie sollen etwa am Wahltag von Tür zu Tür gehen.

Owen Jones hängt sich so rein, weil er überzeugt ist, dass die junge Generation besonders unter den Folgen der Finanzkrise leidet - Banken wurden im Vereinigten Königreich mit Milliarden gerettet, die anderswo gespart werden mussten. Die Tories setzen eine Austeritätspolitik durch, um das Defizit zu reduzieren - doch die Rentner und älteren Bürger seien geschont worden.

"Die Uni-Gebühren wurden verdreifacht, also türmen viele Studenten Schulden auf. Die Unterstützung für junge Leute aus der Arbeiterklasse wurde gestrichen, zudem viele andere Angebote", zählt der 32-Jährige auf. Auch Uni-Abolventen fänden oft keine sicheren Jobs mehr und der Traum eines Eigenheims rücke in weite Ferne: "Ich weiß, in Deutschland ist das anders, aber in der britischen Gesellschaft ist home ownership entscheidend für den Stellenwert in der Gesellschaft."

Eigentlich sei die Lage ziemlich ironisch, so Jones: "Für die ältere Generation der Briten wurden die sozialdemokratischen Prinzipien geschützt, aber den Jungen verwehrt man diese Absicherung." Es gebe eine große Kluft unter den Wählern - und ähnlich wie beim Brexit ist das Alter entscheidend: Die über 65-Jährigen wählen mit riesigen Mehrheiten die Konservativen, während der Vorsprung von Labour bei den unter 25-Jährigen je nach Umfrage zwischen 57 und 33 Prozentpunkten beträgt. Der große Unterschied: Rentner gehen stets zur Wahl, aber bei den Millennials nur jeder Zweite.

Wie reagiert Owen Jones? Er dreht das Video #callyourgrandfolks, in dem er alle oben genannten Daten erzählt und appelliert an seine jungen Fans: "Die Geheimwaffe ist das Telefon. Ruft eure Großeltern und sagt denen, was die Tories vorhaben." Jones ist überzeugt: May und die Konservativen sind so sicher, dass die Senioren für sie stimmen werden, dass sie nun auch Hilfsprogramme für Rentner streichen wollen. Und die Jugend soll Oma und Opa sagen: Es geht auch um meine Zukunft.

An diesem Beispiel lässt sich der Erfolg von Owen Jones gut erklären: Das Video ist witzig, sehr gut mit Archivmaterial produziert und enthält eine klare Ansage. Jones ist authentisch und wirbt mit Leidenschaft für seine Anliegen - und man hört ihm an, dass er in Nordengland aufwuchs. Er liebt die politische Diskussion und vertritt oft die Labour-Position in Diskussionsrunden im Radio oder Fernsehen. "Ich sehe auch viele Dinge kritisch an Labour, etwa die permanenten internen Streitigkeiten. Aber bei einer Wahl muss man Farbe bekennen und daher konzentriere ich mich, die Tories zu attackieren." Auch Facebook ist wichtig für die Verbreitung seiner Videos und Artikel: Knapp 300 000 Fans hat er dort.

Es gibt kaum ein Thema, mit dem sich Jones nicht beschäftigt: Nach dem Selbstmordanschlag von Manchester schrieb er eine Liebeserklärung an seine Heimatstadt und nach der jüngsten Terror-Attacke appellierte er an die Londoner, sich nicht einschüchtern zu lassen, sondern zusammenzustehen. Via Twitter kann er sich einen Seitenhieb auf den von ihm verachteten US-Präsidenten nicht verkneifen.

Und am Abend von Donald Trumps Amtseinführung trat er in Washington bei der Anti-Inauguration auf. Auch dort hatte er eine ebenso klare wie pathetische Botschaft im Gepäck: "Die Zukunft Europas und der Welt liegt auf den Schultern der Menschen hier im Saal! Ich will euch nicht unter Druck setzen, aber so ist es."

Am Anfang der Karriere steht ein Buch über "Prolls"

Dass der Youtube-Star Owen Jones heute in Großbritannien so bekannt ist ("auf der Straße sprechen mich die Jungen auf meine Videos an, die Erwachsenen kommentieren meine Kolumnen"), liegt ausgerechnet an einem Buch. Sein 2011 erschienenes Werk "Chavs" kam 2012 in deutscher Übersetzung heraus und hieß dort "Prolls. Die Dämonisierung der britischen Arbeiterklasse". Während heute überall über Klasse geredet werde, sei das Thema damals eher tabu gewesen, erinnert er sich.

"Unter New Labour und den Premierministern Tony Blair und Gordon Brown hieß es stets: 'Nun sind wir alle Mittelklasse'", sagt Jones. Arbeiter seien als "faule, rassistische Schmarotzer" abgetan worden. Jones arbeitete damals, nach einem Geschichtsstudium in Oxford, im Büro eines Labour-Abgeordneten und war selbst überrascht vom großen Erfolg. Leider, so sagt er ohne Angeberei, habe sich eine Warnung erfüllt: Weil Labour nicht mehr über Klasse sprach, sei ein Vakuum entstanden.

"Ich schrieb damals, dass eine clevere rechtspopulistische Partei das ausnutzen und argumentieren könnte: 'Natürlich gibt es eine Arbeiterklasse, die wir vertreten - und nicht diese elitären Liberalen in London, die euch verachten, weil ihr Patrioten seid und Zuwanderung und Multikulti kritisch seht.'" Dies war exakt die Strategie der fremdenfeindlichen Ukip-Partei unter Nigel Farage. Deren Erfolg führte auch dazu, dass David Cameron das Brexit-Referendum ansetzte.

Wer abweichende Meinungen hat, wird heute als Verräter beschimpft

Dass der Ton in Großbritannien rauer wird, merkt Owen Jones als Figur des öffentlichen Lebens besonders. In seinen Augen war die Volksabstimmung um den Brexit ein "Kulturkrieg", bei der es eigentlich um Einwanderung ging. Jones warb trotz gewisser Vorbehalte gegen die EU für "Remain" und wirft der Gegenseite eine "teuflische Kampagne" vor.

"Natürlich besteht die große Mehrheit der 'Leave'-Wähler nicht aus Rassisten, aber es sind die Eiferer, die nun am lautesten schreien und denken, dass sie für die Mehrheit sprechen", sagt Jones. Seit dem Brexit wurden mehr hate crimes registriert, zudem werden Leute bedroht und beleidigt. Die Richter, die dem Parlament ein Mitspracherecht gaben, wurden als "Feinde des Volkes" bezeichnet. Gerade die Boulevardzeitungen tragen nicht zur Entspannung bei. Die Titelseite der Daily Mail als Reaktion auf die Neuwahl geht Jones bis heute nicht aus dem Kopf: Dort prangt der ziemlich undemokratische Aufruf: "Zerquetscht die Saboteure".

Owen Jones bekommt als Reaktion auf sein Engagement viel hässliche Post, doch schlimmer sei es für Kolleginnen: "Egal ob Linke oder Rechte: Viele Männer akzeptieren nicht, dass Frauen ihre Meinung äußern." Weil er sich zu seiner Homosexualität bekennt, wird er plötzlich stärker angefeindet. Die öffentliche Debatte empfindet der Aktivist als vergiftet: "Leute mit abweichenden Meinungen werden als Verräter abgetan. Das ist sehr verstörend, wenn man in einer Demokratie lebt."

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