Süddeutsche Zeitung

Ukraine:Selenskij warnt vor "historischer Katastrophe" am Kachowka-Staudamm

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Der ukrainische Präsident verdächtigt Russland, den Staudamm sprengen zu wollen. Russische Statthalter unterstellen der Ukraine einen ähnlichen Plan.

Von Frank Nienhuysen

Die Warnung von Wolodimir Selenskij war scharf und erinnerte an einen alten Bond-Film, in dem ein Bösewicht in Kalifornien eine Stelle am San-Andreas-Graben sprengen will, um das Silicon Valley zu überfluten. Der ukrainische Präsident sprach über den Kachowka-Damm im Süden der Ukraine.

Der gewaltige Stausee wurde in den sowjetischen Fünfzigerjahren am unteren Lauf des Dnjepr angelegt. Er ist mit einer Fläche von 2155 Quadratkilometern viermal so groß wie der Bodensee und mit einem Volumen von 18,2 Milliarden Kubikmetern wichtig für die Wasserversorgung in der Region, zu der auch die Städte Cherson und Nikopol gehören. Das Atomkraftwerk von Saporischschja wird mit Wasser aus dem Stausee gekühlt. Selenskij sagte nun, er habe Informationen darüber, dass Russland den Staudamm sowie Aggregate des dortigen Wasserkraftwerks vermint habe und eine "historische Katastrophe" auslösen könnte.

Die Folgen wären verheerend, für die Umwelt, womöglich für das AKW Saporischschja, sicher für die Menschen in den umliegenden Gebieten. Mehr als 80 Orte würden überschwemmt, sagte Selenskij, darunter die Stadt Cherson, die derzeit von Russland kontrolliert wird. Noch, denn die ukrainischen Truppen rücken vor. Sollte das Szenario wahr werden, dürfte dies erneut Zehntausende Menschen in die Flucht treiben.

Eine Überflutung könnte den russischen Rückzug kaschieren

Das amerikanische Institute for the Study of War hat dazu geschrieben, dass russische Truppen den ukrainischen Vormarsch auf diese Weise verhindern, zumindest verzögern würden, sollte der Staudamm beschädigt werden. Eine Überflutung der Region und die nachrichtliche Wucht könnten zugleich den eigenen Rückzug kaschieren. Wie schwierig für Russland die militärische Lage im Gebiet um Cherson gerade ist, hat vor wenigen Tagen der neue Kommandeur der russischen Truppen deutlich gemacht, General Sergej Surowikin. Er deutete einen möglichen Rückzug an, da die Ukraine Flussübergänge zerstört habe und so die Versorgung seiner russischen Soldaten erschwere.

Übertreibt Selenskij, wenn er über eine mögliche Katastrophe spricht, die durch einen mutwillig gesprengten Staudamm ausgelöst werden würde? Beunruhigend für die Menschen in der Region ist, dass nicht nur der ukrainische Präsident über eine Überflutung spricht, sondern auch Russland darüber spekuliert.

Der von Russland eingesetzte Vize-Gouverneur der Region, Kirill Stremousow, weist die Vorwürfe zwar zurück, man habe den Staudamm vermint. Doch sowohl der Statthalter des Cherson-Gebiets, Wladimir Saldo, als auch Kommandeur Surowikin warnten vor seiner Zerstörung - allerdings durch die ukrainischen Truppen. Nicht mit einer Sprengung, denn der Ort wird von Russland kontrolliert, sondern durch Raketenangriffe. Das Ausmaß könnte schrecklich sein, sagte Surowikin.

Die russische Zeitung Komsomolskaja Prawda schrieb dazu: "Apokalypse am Dnjepr - was passiert, wenn die ukrainischen Streitkräfte den Staudamm sprengen?" Und führte aus: Mit 25 Stundenkilometern würde sich eine fünf Meter hohe Welle den Fluss abwärts bewegen, nach zwei Stunden würde sie auf die Stadt Cherson treffen.

Russland rechtfertigt mit diesem angeblichen Drohszenario, dass es gerade zehntausende Menschen aus Cherson wegbringen lässt. Kiew spricht von der "Deportation ukrainischer Zivilisten nach Russland". Die im Exil arbeitende Nowaja Gaseta Europe berichtete, dass viele Einwohner gar nicht wüssten, wohin sie überhaupt gebracht werden. Andere weigerten sich die Stadt zu verlassen.

Nach einem Bericht des Ukraine Crisis Media Centers in Kiew glaubt der ukrainische Generalstab wiederum auch nicht, dass Russland den Damm sprengt. Der Kreml spekuliere vielmehr darauf, die Stadt Cherson zu halten. Zumal Selenskij sagte, dass mit einem Dammbruch auch die Wasserversorgung der Krim gefährdet würde. Er traut dies Moskau offenbar trotzdem zu.

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