Süddeutsche Zeitung

Ukraine-Krise:Die Nato grübelt, Putin handelt

Lesezeit: 5 min

Von Ian Traynor, The Guardian

Demokratie ist manchmal verworren. Und sobald es um Demokratie im internationalen Rahmen geht, in Klubs und Koalitionen wie der Nordatlantischen Allianz oder der Europäischen Union, dann kommt noch die Bürokratie hinzu. Komitees und Ausschüsse, Gipfeltreffen und Konsenssuche, Konflikte und Kompromisse, Armeen von politischen Unterhändlern, die herumrennen, sich besprechen und versuchen, sich alle auf einen bestimmten Kurs zu einigen - all das trägt Schuld daran, dass Demokratie auf internationaler Ebene nicht zu schnellem, entschlossenem und wirkungsvollem Handeln führt.

Bei Diktatoren oder autoritären Regimen sieht das ganz anders aus. Sie legen einen einzigen Schalter um, sie ziehen an einem Hebel - und Dinge passieren tatsächlich, oftmals sofort. Dieser Unterschied ist ein Grund, warum der Wettbewerb zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und Europa in der Ukraine so ungleich ist; warum die eine Seite handelt und die andere stets hinterherstolpert und versucht zu reagieren; warum eine Seite immer vorneweg ist und die andere nachhinkt - zumindest bisher.

Sechs Monate, nachdem der Kreml Europa mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim schockiert hatte, präsentierten die Nato-Mitgliedsländer bei ihrem Gipfeltreffen in Wales ihre Pläne, um die Verteidigungsbereitschaft in Osteuropa zu erhöhen. In den zwei Jahrzehnten davor wurde die Allianz von allerlei Selbstzweifeln geplagt. Kurz gesagt, ging es um diese Frage: Die Nato hatte den Kalten Krieg gewonnen - wozu also gab es das Bündnis immer noch?

Der Gründungszweck der Nato hat plötzlich neue Legitimität

Es war Putin, der den Planern im militärischen Hauptquartier der Allianz in Mons und den Horden von politischen Mitarbeiter in Brüssel einen Rettungsring zugeworfen hat. Plötzlich hatte der Gründungszweck der Nato - die Sowjetunion abzuwehren und einzudämmen - wieder neue Legitimität erlangt. Bei dem Gipfeltreffen in Wales wurde daher beschlossen, eine neue "Speerspitze" zu formen, eine Einheit von bis zu 5000 Mann, die beim ersten Anzeichen von Ärger und in kürzester Zeit nach Polen oder in die baltischen Staaten verlegt werden könnte: zuerst, binnen Stunden, einige Spezialeinheiten, gefolgt von Unterstützungskräften, die binnen weniger Tage eintreffen würden.

Dieser Beschluss wurde vor sechs Monaten gefällt. Aber seit dem Gipfeltreffen im September ist der einst ehrgeizige Plan geschrumpft und in den endlosen Debattenkreislauf geraten, der sich um die immer gleiche Fragen dreht: Wer macht was, wann und wo? Und vor allem: Wer bezahlt dafür? Wo kommt die Ausrüstung her? Sind die Amerikaner dabei, die Europäer abzulösen? Und wer übernimmt das Kommando?

Am schneckengleichen Tempo hat sich nicht viel geändert

Im Dezember trafen sich die Nato-Außenminister in Brüssel, um Fleisch an die Knochen des in Wales gezeichneten Skeletts zu bringen. Europäische Diplomaten klagten schon damals über das schneckengleiche Tempo, mit dem die Sache voranging - besser: nicht voranging. Vorige Woche stellten sie fest, dass sich daran nicht viel geändert hat.

An diesem Donnerstag nun wollen die Verteidigungsminister der Allianz bei einem Treffen versuchen, die Entsendungen von Truppen zu beschleunigen, sich auf die genaue Größe und Zusammensetzung der Speerspitzen-Einheit zu einigen - und darauf, wer die Kosten trägt. "Die Kosten werden dort liegen bleiben, wo sie anfallen", sagt dazu ein hochrangiger Nato-Vertreter. Soll heißen: Es gibt keine Verteilung unter den Mitgliedländern, alle Teilnehmer tragen die ihnen entstandenen Kosten selbst.

"Alle müssen sich an der neuen Speerspitze beteiligen"

Doch die in Wales zur Schau gestellte Entschlossenheit weicht bereits wieder ersten Anzeichen der Ermüdung. In einer Rede in Washington beharrte die für Europa zuständige Staatssekretärin im amerikanischen Außenministerium, Victoria Nuland, darauf, dass alle 28 Nato-Mitglieder in die Truppe eingebunden sein müssten. "Alle Nato-Verbündeten müssen an Land, in der Luft und auf See zu den Missionen beitragen, durch welche die östlichen Mitglieder gestärkt werden. Alle müssen sich an der neuen Speerspitze beteiligen, durch die wir schnell Truppen in Krisengebiete schicken können, und wir müssen in allen sechs Frontstaaten so rasch wie möglich Kommandoeinrichtungen aufbauen", forderte Nuland.

Und sie fügte an: "Alle Verbündeten müssten dazu beitragen, so viel sie können. Einige Regierungen rudern bereits wieder zurück." Auch der schon zitierte ranghohe Nato-Mitarbeiter räumte vorige Woche ein, dass die neue Speerspitzen-Truppe frühestens nächstes Jahr einsatzbereit sein wird.

Das ist eine lange Zeit, wenn an der Ostflanke der Nato ein Krieg geführt wird. Vor dreizehn Jahren, in der Gewissheit, dass die Ost-West-Konfrontation in Europa vorbei sei, hatte die Allianz ihren enormen Planungsapparat zusammengestrichen, der während des Kalten Krieges stets sichergestellt hatte, dass die Nato in höchster Bereitschaft war. Diesen Apparat wieder aufzubauen und anzuwerfen, ist schwierig. Seit dem Ende des Kalten Krieges wurde etwa die logistische und technische Infrastruktur vernachlässigt. Ein Beispiel: Schwere Artillerie und Panzer aus der Mitte Europas schnell an die Grenzen der baltischen Länder mit Russland zu verlegen, ist problematisch - aus dem einfachen Grund, dass es in Deutschland nicht mehr die dazu nötige Bahn-Spurweite gibt.

Die verschlafene, halbherzige und bürokratische Reaktion auf die Skrupellosigkeit des Kreml geht im Westen einher mit einer offen zur Schau getragenen Verwunderung darüber, dass die Russen sich nicht an die vereinbarten Regeln halten - und dazu noch eine verblüffend moderne Art des "hybriden Krieges" vorführen, an die man sich erst noch gewöhnen muss: Fernsehpropaganda, blitzschnelle Dementis, Milizen, Spezialeinheiten ohne reguläre Uniformen, die Belieferung lokaler Verbündeter mit Geld, Waffen und anderem Gerät, das Bestreiten der eigenen Rolle und nicht zuletzt das Heranzüchten und die Pflege von politischen Hilfstruppen in als feindlich gesehenen Westeuropa - all das gehört zu dieser Art der Kriegsführung.

Wirklich neu ist daran relativ wenig, außer der Tatsache, dass bestimmte moderne Methoden und Werkzeuge - allen voran das Internet - genutzt werden. Schon der serbische Herrscher Slobodan Milošević hat diese dunkle Kunst in den Neunzigerjahren benutzt. Der sowjetische Geheimdienst KGB war über Jahrzehnte hinweg ein Meister darin. "Die Komintern hat all das schon in den Zwanzigern praktiziert", meint dazu ein Nato-Vertreter.

Gegen den ausgefeilten Propagandakrieg des Kreml ist der Westen machtlos

Beispiel Propagandakrieg: Es mag so aussehen, als habe Russlands Präsident Putin plötzlich beim Beginn der Ukraine-Krise eine schicke, schlanke, neue Propaganda-Maschine aus dem Hut gezaubert und angeworfen. Tatsächlich aber hat er schon wenige Monate nach seinem Amtsantritt im Jahr 2000 damit begonnen, die unabhängigen russischen Fernsehsender abzuschalten. Das PR-Desaster um das gesunkene U-Boot Kursk im August jenen Jahres hat ihn in seinem Vorgehen noch bestärkt. Die zwei wichtigsten Fernsehmogule Russlands, Boris Beresowskij und Wladimir Gusinskij, mussten ihre Medienimperien aufgeben und das Land verlassen. Jetzt gibt Wladimir Putin Hunderte Millionen für seichte Fernsehunterhaltung im Stile des Italieners Silvio Berlusconi aus - durchsetzt mit wütender antiwestlicher und antiukrainischer Propaganda.

Die Antwort des Westens? Jede Menge Gedankenspiele über "strategische Kommunikation". Die Nato hat eine eigene spezielle Einheit eingerichtet, die darüber nachdenkt, wie man mit Russland in diesem Feld mithalten könnte. In der Europäischen Union gibt es lettische Pläne und estnische Pläne; es wurden Briefe an die EU-Kommission in Brüssel geschrieben, von der britischen Regierung ebenso wie von der dänischen. Die Niederländer haben eine halbe Million Euro bereitgestellt, um ein Projekt zu finanzieren. Nichtregierungsorganisationen werden auch einbezogen. Und schließlich erhielt die Hohe Beauftragte der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, die Italienerin Federica Mogherini, die Weisung, die Gegenwehr gegen die russische Propaganda in den Griff zu bekommen.

"Es wird dauernd gelogen"

"Es wird dauernd gelogen", klagt ein lettischer Regierungsvertreter, der mit der russischen Propaganda beschäftigt ist, über die Desinformationsarbeit Moskaus. "Die Fakten werden verbogen, es ist widerlich. Propaganda ist moralisch abstoßend und selten wirksam."

Mit den meisten dieser Beschreibungen hat er recht - mit der letzten aber nicht. Putins Fernsehpropaganda ist - wie der konservative amerikanische Sender Fox News - sehr wirksam. Der Westen hat keine Ahnung, wie er dem entgegentreten soll, was Nuland "eine neue und böswillige, aus dem Ausland finanzierte Propaganda-Kampagne auf unseren Sendewellen und in unserem öffentlichen Raum" genannt hat. "Alle sind sich einig, dass etwas geschehen muss", sagt auch der lettische Regierungsvertreter. "Aber was? Die Debatte darüber läuft noch."

Lesetipp: Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung und deren Partnerblättern in Europa erhebt US-Vizepräsident Joe Biden schwerste Vorwürfe gegen Russland. Eine militärische Lösung im Ukraine-Konflikt verwirft er jedoch.

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SZ vom 05.02.2015
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