Süddeutsche Zeitung

Tunesien:Immer mehr Sündenböcke

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Gegen die autoritäre Politik von Kais Saied regt sich zunehmend Widerstand. Mit der Verhaftung Oppositioneller und Migranten versucht der Präsident offenbar, die Tunesier wieder auf seinen Kurs zu bringen. Jetzt lässt er eine europäische Gewerkschafterin ausweisen.

Von Mirco Keilberth, Tunis

Mehrere Tausend Anhänger des tunesischen Gewerkschaftsbundes UGTT haben am Samstag in Tunis, Sfax und sechs weiteren Städten gegen die zunehmend autoritären Maßnahmen von Präsident Kais Saied demonstriert. Die traditionsreiche UGTT hatte in den letzten Wochen eine Koalition aus Oppositionsgruppen geschmiedet und konnte nun mehr Menschen auf die Straßen bringen als alle politischen Parteien zusammen. Selbst die nach der Revolution populäre Ennahda-Partei konnte in den letzten Monaten nur mit in Bussen aus der Provinz herangekarrten Demonstranten ihre Straßendemos gegen den Präsidenten füllen.

Die UGTT hat hingegen nun auch Unterstützung von Gewerkschaften aus Europa. Auf der in der Hafenstadt Sfax organisierten Demonstration ging auch Esther Lynch ans Rednerpult, die Vorsitzende des europäischen Gewerkschaftsbundes, und versprach den geschätzten 4000 Demonstranten die Solidarität von "45 Millionen Gewerkschaftsmitgliedern in der EU." Die Belgierin forderte die Freilassung aller tunesischer Gewerkschaftler und die ungehinderte Arbeit der UGTT.

Doch als Lynch in ihr Hotel zurückkehrte, übergaben ihr Beamte eine offenbar von Kais Saied unterzeichnete Ausweisungsverfügung. Sie sei eine unerwünschte Person und müsse das Land in 24 Stunden verlassen. Offenbar haben Polizisten sie danach gehindert, das Hotel für ein geplantes Abendessen zu verlassen. Ihr Auftritt sei eine inakzeptable Einmischung in die inneren Angelegenheiten Tunesiens gewesen, begründete Saied am Samstagabend seine Entscheidung.

In der vergangenen Woche waren mehrere Oppositionspolitiker, Richter und Geschäftsleute festgenommen worden. Empörung unter jungen Tunesiern löste vor allem die Verhaftung des Besitzers von Mosaique FM aus: Noureddine Boutar hatte in dem politisch unabhängigen, populärsten Radiosender des Landes stets Kritik gegen das alte Regime, die nach der Revolution erstarkten Islamisten, die grassierende Korruption und die religiöse Ennahda Partei zugelassen. Doch dass eine Show des Senders nun auch Kais Saied ins Visier nimmt, wollen die neuen Machthaber offenbar nicht länger hinnehmen.

"Fast alle meine Freunde sind entweder bereits per Boot nach Europa emigriert oder wollen es im nächsten Jahr tun"

Der ehemalige Juraprofessor Saied regiert seit seinem Putsch im Juli 2021 mit Sonderdekreten. Sein autokratischer Kurs stützt sich auf den Vertrauensverlust der Tunesier in die gesamte politische Elite. Und zunächst stand noch eine große Mehrheit der elf Millionen Tunesier hinter seiner "Säuberung der von Korruption zersetzten Institutionen". Doch als die Preise für Milch, Zucker, Kaffee und andere Grundnahrungsmittel exorbitant stiegen, zuletzt sogar gar nicht mehr verfügbar waren, schwand die Zustimmung merklich. "Zwar vermisst kaum jemand das alte Parlament, und die alten Parteien hatten teilweise nicht einmal ernstzunehmende Wahlprogramme", sagt die Studentin Ousaima aus dem südtunesischen Gabes. "Aber es fehlt eine wirtschaftliche Perspektive für die nahe Zukunft. Fast alle meine Freunde sind entweder bereits per Boot nach Europa emigriert oder wollen es im nächsten Jahr tun."

Saied beantwortet den zunehmenden Widerstand gegenüber seinem Radikalumbau des Staates mit Beschimpfungen seiner Gegner als Vaterlandsverräter oder Kollaborateure ausländischer Mächte. Durch die Ausweisung von Esther Lynch und die Inhaftierung von Mosaique-FM-Chef Boutar geht Saied einen Konflikt mit den internationalen Partnern seines Landes ein, des bisher einzigen demokratisch regierten in der Region. Mehrere europäische Botschafter hatten sich in der vergangenen Woche mit UGGT-Vertretern getroffen, die US-Regierung fordert nach der mit elf Prozent rekordverdächtig niedrigen Beteiligung bei der Parlamentswahl einen nationalen Dialog.

Unterdessen geht die Suche nach Sündenböcken für die aktuelle Krise weiter: Seit Anfang vergangener Woche nehmen Polizeieinheiten in mehreren Stadtteilen von Tunis Menschen mit dunkler Hautfarbe fest. In den vergangenen Jahren waren mehr als 20 000 Arbeitsmigranten und Studenten nach Tunesien gekommen. Viele arbeiten und mieten Wohnungen. Auf Sozialleistungen oder ein Aufenthaltsrecht haben sie keine Chance und arbeiten daher für einen Hungerlohn. Nach Angaben der Assoziation afrikanischer Studenten wurden bereits mehrere Hundert Menschen willkürlich verhaftet und sitzen in Abschiebehaft. Begleitet wird die Verhaftungswelle von einer Kampagne, die den Ausländern Schuld an steigender Kriminalität und fehlenden Arbeitsplätzen für Tunesier gibt.

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