Süddeutsche Zeitung

Türkei:Putsch-Rundfahrt in Ankara

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Böse Drahtzieher, falsche Sorgen: Melih Gökçek, der populäre Oberbürgermeister von Ankara, präsentiert seine Sicht auf den Umsturzversuch in der Türkei - in einem offenen roten Bus.

Reportage von Mike Szymanski, Ankara

Der Bus steuert mit Tempo 60 durch den Stadtverkehr von Ankara, mitten hinein in die allerjüngste Geschichte. Sie ist gerade einmal zwei Wochen alt. Zu besichtigen ist sie von einem offenen roten Bus mit der Aufschrift "Stadtrundfahrt" aus. In der Mitte sitzen zwei Zeitzeugen. Es handelt sich um die Cousinen Gülsüm Altun, 17 Jahre alt, und Hilal Gencer, 18. Sie tragen Turnschuhe. Es ist noch nicht lange her, da haben sie selbst noch im Geschichtsunterricht gesessen. Jetzt aber sollen sie erzählen. Es geht um die Nacht des 15. Juli 2016.

Eine Nacht, die das Land verändert hat. Nebenan rauschen die Autos auf drei Spuren vorbei. Gülsüm Altun bekommt das Mikrofon gereicht. "Wir haben Hubschrauber gehört. Wir wussten nicht, was vor sich geht", beginnt sie ihre Geschichte. Dann habe sie den Fernseher eingeschaltet. Es war der Moment, in dem Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan gerade über das iPhone einer Moderatorin zu den Türken sprach. Ein Putschversuch, sagte er. Die Türken sollten jetzt auf die Straße gehen und für die Demokratie kämpfen.

Und Gülsüm Altun ging auf die Straße. "Es fühlte sich an wie im Krieg. Ich hoffe, dass so etwas nicht wieder passiert." Später, als sie aus dem Bus aussteigt, sieht man, dass sie langsamer als alle anderen das eine Bein vors andere setzt. Sie hat noch Splitter im Körper. Die Putschisten hatten auf die eigenen Leute geschossen. Die 17-Jährige muss noch einmal operiert werden. Ihre Cousine wurde auch verletzt. Sie hat eine Narbe auf der Stirn, einen rosa Strich von drei Zentimetern auf brauner Haut.

Die Presse habe noch nicht verstanden, glaubt das Stadtoberhaupt

Das hier ist keine normale Stadtrundfahrt. Es ist auch kein gewöhnlicher Politiker, der sie sich ausgedacht hat. Melih Gökçek ist Oberbürgermeister von Ankara. Wenn Erdoğan der große Herrscher der Türkei ist, dann ist Gökçek der große Entertainer der Politik.

Seit 1994 ist er Oberbürgermeister der Hauptstadt. Er war schon unbesiegbar, bevor es die AKP überhaupt gab. Wenn Erdoğan mit seiner Botschaft nicht mehr durchdringt, dann versucht Gökçek sein Glück. Der 67-Jährige will nicht nur Zweifel ausräumen. Er will jetzt Platz schaffen für seine Wahrheit.

Dem Treffen mit der Presse hat er eine Überschrift gegeben: "Spezielle Details über den Putschversuch und Fethullah Gülen." Der Prediger, Erdoğans einstiger Weggefährte und heutiger Gegner, soll hinter dem Putschversuch stecken. Gökçek hat die Nachrichten in Deutschland verfolgt und Zeitungen gelesen. Die internationale Presse habe noch nicht verstanden, glaubt er. Manche äußerten den Verdacht, Erdoğan selbst könnte den Putsch inszeniert haben. Außerdem findet er, dass international viel zu viel Besorgnis über den Umgang mit den Putschisten geäußert werde, statt das "heldenhafte" Wirken der Türken in dieser Nacht zu würdigen.

Daher diese Tour, die Stadtrundfahrt zur Einstimmung. Sie führt an die Orte des Schreckens. Zum zerbombten Hauptquartier der Polizei, von dem kein Stockwerk heil geblieben ist. Zu den Demokratie-Nachtwachen an Erdoğans Palast, der Ziel der Angriffe wurde. Ins Parlament, das von den Putschisten aus der Luft beschossen wurde. Teile des Gebäudes sind zerstört. Mit der Reparatur hat es niemand eilig. Das Parlament soll noch eine Zeit lang Gedenkort bleiben.

Niemand geringerer als Parlamentspräsident İsmail Kahraman hat sich für Gökçeks Gäste, vor allem Journalisten aus dem Ausland, Zeit genommen. Er führt sie in einen Prachtsaal und lässt sie an einem langen Tisch sitzen. Die Vorhänge sind goldfarben. Kahraman sagt, Gülen sei "Anführer, Drahtzieher und Koordinator" des Putschversuchs. "Jeder hat gesehen, in welchem Ausmaß sie zum Bösen fähig sind." Für ihn sind die Gülen-Anhänger Terroristen. Überall auf der Welt müssten sie bekämpft werden. Seine Worte sind hart. Aber sie klingen nicht so. Gökçek ist ein ganz anderer Typ.

Die Ereignisse der Putschnacht - mit Musik unterlegt

Das geht schon damit los, dass Gökçek in erster Linie Gökçek-Anhänger ist. Erst danach kommt Erdoğan. Wenn Gökçek mit Journalisten spricht, dann ist das keine normale Pressekonferenz. Es ist eine Aufführung. Er regiert die Stadt von einem blauen Turm aus, der ist mehr als 20 Stockwerke hoch. Der Versammlungsraum im Erdgeschoss gleicht einem Theater. Auf der Bühne steht ein Schreibtisch aus Holz - oder aber sein Arbeitsplatz ist eine gigantische Bühne.

Jedenfalls gibt es erst mal Kino, laut und dröhnend. Die Ereignisse der Putschnacht. Unzensiert, aber mit Musik unterlegt. Der Film zeigt zerfetzte Körper, schreiende Menschen. Alle Gäste bekommen das Material zum Mitnehmen. "Die Armee eines Landes darf das eigene Volk nicht beschießen", sagt Gökçek. "Das ist die Armee von Fethullah Gülen."

Gökçek liebt den donnernden Auftritt. Im Internet kommuniziert er am liebsten über den Kurznachrichtendienst Twitter. Er schreibt in Großbuchstaben. So macht er auch Politik. "Was würde Deutschland in so einer Situation machen?", fragt er. Aber es geht ihm nicht wirklich um eine Antwort. Den USA empfiehlt er, den in Pennsylvania im Exil lebenden Gülen sofort auszuliefern. Das wäre Beweis genug, dass die Staaten mit dessen Verbrechen nichts zu tun hätten.

Jeder müsse auf Seiten der Türkei stehen. "Noch Fragen?"

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Quelle:
SZ vom 03.08.2016
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