Süddeutsche Zeitung

Türkei:"Späte Gerechtigkeit ist keine"

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Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Der Journalist Deniz Yücel hat vor dem türkischen Verfassungsgericht einen wichtigen Sieg errungen. Yücel war von Februar 2017 bis Februar 2018 in der Türkei inhaftiert. Dies sorgte für die bis dahin schwerste Belastung der deutsch-türkischen Beziehungen. Das Verfassungsgericht erklärte jetzt die einjährige Untersuchungshaft des deutsch-türkischen Journalisten im Nachhinein für rechtswidrig. Das Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit des Welt-Reporters sowie das Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit seien verletzt worden, erklärten die Richter in einem einstimmigen Beschluss, der am Freitag veröffentlicht wurde.

Sie sprachen Yücel auch einen Schadenersatz zu, von 25 000 Lira, rund 3800 Euro. Der 45-Jährige freute sich über das Urteil, er twitterte aber: "Mit diesem Urteil widerfährt mir keine Gerechtigkeit. Späte Gerechtigkeit ist keine. Dass mir und meinen Liebsten ein Jahr unseres Lebens geraubt wurde, ist mit 3800 Euro nicht wiedergutzumachen und wäre es auch nicht mit der tausendfachen Summe." Er wolle das Geld spenden, schrieb Yücel, der Stiftung Ali Ismail Korkmaz. Die erinnert an einen 19-jährigen Studenten, der bei den Gezi-Protesten vor sechs Jahren ums Leben kam. Yücels Anwalt Veysel Ok teilte mit, eine getrennte Schadensersatzklage des Journalisten laufe noch.

Angeklagt für seine journalistische Arbeit

Yücel war erst nach einer persönlichen Intervention von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem damaligen Außenminister Sigmar Gabriel freigekommen. Vor seiner Ausreise wurde noch ein Prozess gegen ihn eröffnet, der läuft weiter. In der Anklage wird dem Reporter Terrorpropaganda und Volksverhetzung vorgeworfen. Diese stützt sich auf Texte des Journalisten. Auch dazu hat das Verfassungsgericht nun Wichtiges gesagt. Es stellte klar, dass ein Journalist nicht für Aussagen eines Interviewpartners verantwortlich ist. Dabei ging es um ein Gespräch, das Yücel mit dem PKK-Kommandanten Cemil Bayık geführt hatte. "Die Bestrafung oder Beschuldigung eines Journalisten wegen der Veröffentlichung von Meinungen, die andere Personen während eines Interviews äußern, schränkt den Beitrag der Presse zu Diskussionen der im öffentlichen Interesse stehenden Themen ernsthaft ein", so das Gericht. Das Interview könne Yücel nicht als Terrorpropaganda ausgelegt werden. Auch bemängelten die Verfassungsrichter, dass die Anklage teils schlechte Übersetzungen von Yücels Texten verwendet habe.

Dessen Prozess geht am 16. Juli in Istanbul weiter. Bislang war Yücel aus Sorge vor neuer Verhaftung nicht eingereist, dabei dürfte es bleiben. Es wurde ihm erlaubt, im Rahmen der Rechtshilfe seine Aussage in Deutschland zu machen. Dabei hatte Yücel im Mai erklärt, er habe während der Haft Schläge, Tritte und Drohungen von Beamten erlebt, sie hätten ihn als "Vaterlandsverräter" beschimpft. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte Yücel einen "Agenten" genannt.

Das Verfassungsgerichts hatte auch im Fall zweier türkischer Journalisten in jüngerer Zeit eine lange U-Haft als Grundrechtsverletzung kritisiert. Erst im Mai aber wies es eine Beschwerde des Kulturmäzens Osman Kavala gegen seine eineinhalbjährige Inhaftierung ohne Prozess ab. Der Deutsche Journalisten-Verband nannte das Urteil einen "wunderbaren Sieg der Presse- und Meinungsfreiheit". In der Türkei sind allerdings noch immer Dutzende Journalisten in Haft, viele andere stehen vor Gericht.

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SZ vom 29.06.2019
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