Süddeutsche Zeitung

Osteuropa:Tschechien streikt

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Die Regierung hat ein Bündel an Maßnahmen verabschiedet, um die Staatsverschuldung einzudämmen. Nun hat der Gewerkschaftsbund einen "Tag des Protests für eine bessere Zukunft" ausgerufen. Erwartet wird ein Großstreik, wie es ihn seit Jahrzehnten nicht gab.

Von Viktoria Großmann, Warschau

Viele tschechische Kinder haben an diesem Montag schulfrei. Ihre Lehrerinnen und Lehrer streiken. Tausende Schulen und Vorschulen in Tschechien sollen am Montag geschlossen bleiben, bis zu 70 Prozent aller Einrichtungen. Aber auch in Ämtern und Behörden, öffentlichen Bibliotheken, an Hochschulen, in Krankenhäusern sowie in der Industrie soll am Montag gestreikt werden. Allein der Schulstreik könnte der größte seit 1990 werden, insgesamt erwartet das Land ein Streiktag, wie ihn Tschechien kaum kennt.

Der Böhmisch-mährische Gewerkschaftsbund ČMKOS, die größte Arbeitnehmervertretung Tschechiens, hat diesen Montag zum "Tag des Protests für eine bessere Zukunft der Tschechischen Republik" erklärt. Gemeinsam wollen sie antreten für ein "Ende der billigen Arbeit", gegen die "Arroganz der Macht" und den "Verfall des Lebensstandards".

Echte Reformen blieben unter der früheren Regierung aus

Die konservativ-liberale Fünferkoalition, die in Prag seit Ende 2021 regiert, hatte in diesem Jahr verschiedene Einschnitte bei den Sozialleistungen gemacht. Erst in dieser Woche wurde ein weiteres Gesetz zur Konsolidierung des Haushalts verabschiedet. Ministerpräsident Petr Fiala hält es für absolut notwendig, weil das Land in immer tiefere Schulden rutscht. Präsident Petr Pavel hatte sich seine Unterschrift darunter allerdings nicht leicht gemacht und lange abgewogen. Bereits kurz nach Amtsantritt im März hatte er ein Gesetz zur Rentenreform unterzeichnen müssen - auch hierfür ließ er sich Zeit, hörte sich die Bedenken der Opposition an.

Bei der letzten Wahl zum Abgeordnetenhaus im Oktober 2021 hatte der bis dahin regierende Oligarch Andrej Babiš seine Mehrheit verloren. Mit seiner linkspopulistischen Ano-Partei führt er seither die Opposition an. Im Januar verlor er in der Stichwahl um das Präsidentenamt deutlich gegen Petr Pavel. In Umfragen aber liegt die Partei von Babiš nun bei bis zu 35 Prozent Wählerzustimmung. Würde jetzt das Abgeordnetenhaus neu gewählt, könnte Babiš mit Leichtigkeit wieder die Regierung übernehmen - gemeinsam mit der rechtsextremen Partei SPD, mit der er sich die Oppositionsbank teilt.

Babiš war stets vorgeworfen worden, nur gute Gaben zu verteilen - ein paar Rentensonderzahlungen vor Wahlen, höhere Gehälter für Lehrer. Echte Reformen aber blieben aus, hielten ihm Kritiker vor. So soll die im März beschlossene Rentenreform nun dazu dienen, die Pensionszahlungen besser zu verteilen, sodass nicht nur Rentner mit guten Bezügen, sondern vor allem die mit wenig Einkommen von der nächsten Anhebung profitieren. Vor einer Woche verkündete das Sozialministerium zudem, dass von 2025 an das Renteneintrittsalter auf über 65 Jahre angehoben werden soll.

Krankenkassenbeiträge und Immobiliensteuern sollen erhöht werden

Und nun sollen also zum 1. Januar massive Gesetzesänderungen in Kraft treten, um den Haushalt zu entlasten. Das sogenannte Konsolidierungspaket hatte Präsident Pavel am vergangenen Mittwoch unterzeichnet. Die Diskussion darum zog sich bereits seit dem Frühjahr. Die Regierung möchte erreichen, in den nächsten zwei Jahren umgerechnet etwa sechs Milliarden Euro mehr in der Staatskasse zu haben. Verschiedene Steuererleichterungen sollen aufgehoben werden. So soll der für viele Lebensmittel geltende Mehrwertsteuersatz von bisher zehn auf einheitliche zwölf Prozent angehoben werden.

Doch auch Krankenkassenbeiträge und Immobiliensteuern sollen erhöht, Steuervergünstigungen für Ehepartner ohne Einkommen abgeschafft werden. Aus Sicht der Opposition ist das Ganze ein Steuererhöhungspaket und schade zudem der Wirtschaft. Der unabhängige Nationale Haushaltsrat hatte aber immer wieder dazu aufgerufen, dringend die weitere Staatsverschuldung aufzuhalten. Präsident Pavel erklärte nun seine Unterschrift so: "Auch Tschechien kann nicht auf Dauer mehr ausgeben, als es einnimmt."

"Die Leute sind wirklich sehr wütend", sagte Gewerkschaftsführer Josef Středula am Wochenende im tschechischen Fernsehen. Die Regierung müsse sich nicht wundern, sie habe viel zu wenig auf die Gewerkschaften gehört. Středula beklagt unter anderem die anhaltende Belastung von privaten Haushalten wie der Industrie durch die hohen Energiepreise. Die Angestellten in den Schulen ärgern vor allem die allgemeinen Kürzungen. Zwar wurden ihre Gehälter erhöht, gleichzeitig aber am Personal gespart und die Zahl der Unterrichtsstunden erhöht.

Arbeits- und Sozialminister Marian Jurečka versteht die ganze Aufregung trotzdem nicht. Warum solle jetzt gestreikt werden, wo gerade die Inflation sinkt und die Gehälter im nächsten Jahr steigen werden, hielt er immer wieder den Gewerkschaften entgegen. Am Montag will er nun auf Besuche in Brüssel verzichten und mit den Menschen auf den Kundgebungen in Prag sprechen.

Unterdessen stellt sich Oppositionsführer Andrej Babiš auf die Seite des Protests. Die Regierung habe "schon lange den Kontakt zur Realität verloren", schreibt er auf seinem Facebook-Account, wo er sich in gewohnter Weise am Schreibtisch sitzend präsentiert, Zeitungen und Akten vor sich und über seine Lesebrille blickend seine Sicht der Dinge erklärt. Außerdem zeigt er sich dort mit politischen Freunden. Dazu zählt er den gerade neu gewählten slowakischen Premier Robert Fico, der sich anschickt, in seinem Land Polizei und Justiz so umzubauen, dass weder gegen ihn noch seine Parteifreunde weiterhin wegen Korruptionsvorwürfen ermittelt werden kann. Fico hatte am Freitag in Prag seinen Antrittsbesuch beim tschechischen Premier Petr Fiala absolviert und sich danach mit Babiš getroffen, der gebürtiger Slowake ist.

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