Süddeutsche Zeitung

Thüringen nach der Wahl:Im Reich der Ungewissheit

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Von Ulrike Nimz

Als Bodo Ramelow am Sonntagabend vor die Kameras trat, ließ er sich seinen Triumph nicht anmerken. Wie in den vergangenen fünf Jahren gab er den tiefenentspannten Landesvater. Seine Partei habe einen klaren Regierungsauftrag erhalten. Man habe in Thüringen immer als Team gearbeitet und werde das weiter tun.

"Ich werbe nicht für meine Partei, sondern für Rot-Rot-Grün", hatte Deutschlands erster und einziger linker Ministerpräsident während des Wahlkampfes immer wieder betont. Doch dieses Modell wird wohl keine Zukunft haben, trotz des starken Ergebnisses der Linken, die erstmals überhaupt in einem Bundesland stärkste Kraft wird.

Diese Wahl liefert vor allem eine Gewissheit: dass es in Thüringen keine politischen Gewissheiten mehr gibt. Denn eine Mehrheitsfindung dürfte im Freistaat schwierig bis unmöglich werden. Die bisherigen Koalitionspartner SPD und Grüne bleiben weit unter ihren Erwartungen. Die AfD um Björn Höcke ist stark, jedoch nicht so stark wie zuletzt in Sachsen. Die FDP schafft wohl den Sprung in den Landtag.

Der große Verlierer dieser Wahl heißt Mike Mohring, CDU-Chef und Spitzenkandidat seiner Partei. Mohring gab sich im Wahlkampf als Mann der Mitte. Er nannte Björn Höcke einen "Nazi" und griff Ramelow an, weil dieser sich angeblich nicht genug von der DDR als Unrechtsstaat distanzierte. Genützt hat es ihm offenbar nichts.

"Die bürgerliche Mitte hat keine Mehrheit mehr. Das ist das bittere Ergebnis dieser Wahl", sagt Mohring auf dem Landtagsflur in Erfurt. Es könne an diesem Abend noch keine Antworten geben. Über Fragen wie eine Tolerierung der Linken in einer Minderheitsregierung wolle man in Ruhe nachdenken, so Mohring. Eine geschäftsführende Regierung aber, die nichts entscheiden könne, wäre "fatal" für das Land.

Der Ausgang dieser Wahl hat bundesweite Strahlkraft

"Es geht bei dieser Wahl nicht um Berlin, es geht um Thüringen", hatte Mohring gesagt, als er in der "Kloßwelt Heichelheim" vor etwa 500 Anwesenden die letzten 70 Minuten seines Wahlkampfs einläutete. Er hatte damit recht und unrecht zugleich: Denn obwohl es im Thüringer Wahlkampf zuvorderst um den Borkenkäfer, Unterrichtsausfall und den Busfahrplan auf den Dörfern ging - der Ausgang dieser Wahl hat bundesweite Strahlkraft. Es geht auch um die Folgen für die große Koalition in Berlin. Aber diese Wahl war auch ein Gradmesser für die politische Kultur im Land. 268 politische Straftaten im Wahlkampf zählte das Landeskriminalamt vor der Wahl. Es war Mohring, der vor einer Woche eine Morddrohung öffentlich machte. Darin fordern Unbekannte ihn auf, seinen Wahlkampf aufzugeben, andernfalls werde er zum Zielobjekt. "Wir werden sie versuchen auf der nächsten öffentlichen Veranstaltung, niederzustechen", heißt es in dem Schreiben. Es ist voller Rechtschreibfehler, unterzeichnet ist mit "Sieg Heil und Heil Hitler".

Auch andere Spitzenkandidaten sprachen über ihre Wahlkampferfahrungen. Dirk Adams, Spitzenkandidat der Grünen, erhielt eine Hetz-Mail, Absender war eine "Cyber-Reichswehr". An die Haustür des FDP-Spitzenkandidaten Thomas Kemmerich sprühten Unbekannte den Satz: "Wer die AfD unterstützt, der ist unser Feind!" Autoscheiben von AfD-Politikern wurden eingeschlagen, ein Wahlkampf-Lastwagen brannte aus. In Pößneck wurde vor einem Auftritt Ramelows die Wohnung eines 41-jährigen Neonazis durchsucht. Die Beamten fanden illegale Schusswaffen.

Dieses Thüringen ist eben nicht nur Bratwurst und Klöße, Goethe und Rennsteig. Das kleine Land in der Mitte Deutschlands hat ein Wutbürgerproblem. Das belegt der "Thüringen-Monitor", eine jährliche Befragung zu politischen Einstellungen im Auftrag der Staatskanzlei. Nur 16 Prozent sind "sehr zufrieden" oder "ziemlich zufrieden" mit der Demokratie.

Die gesellschaftliche Spaltung findet auch in der Tatsache Ausdruck, dass in Thüringen die Bildung einer Koalition ohne AfD und Linke kaum mehr möglich ist. Anders als in Sachsen und Brandenburg, wo inzwischen geräuschlos Kenia-Bündnisse geschmiedet werden und kein Dissens nach draußen dringt, dafür knappe Statements von "gegenseitigem Respekt."

Die drei Wahlen in den ostdeutschen Bundesländern haben gezeigt: Ist ein Erfolg der AfD zu erwarten, hilft das vor allem dem amtierenden Ministerpräsidenten. In Sachsen wurde die gebeutelte CDU nicht nur wegen des beispiellosen Wiedergutmachungswahlkampfs ihres Chefs Michael Kretschmer stärkste Kraft, sondern auch, weil viele Menschen, die sonst grün, SPD oder sogar die Linke wählen, ihre Stimme den Christdemokraten liehen. Auf dass ihr Kreuz einem höheren Zweck diene, einen Sieg der AfD zu verhindern.

Die rot-rot-grüne Mehrheit in Thüringen war schon immer instabil

Leidtragende solcher Zweikampf-Szenarien sind die Parteien dazwischen. Mike Mohring, der im Wahlkampf immer wieder seinen Entschluss bekräftigt hatte, notfalls ein Viererbündnis mit SPD, Grünen und FDP zu schmieden, um Ministerpräsident zu werden, sieht sich mit der Tatsache konfrontiert, dass seine Christdemokraten in Thüringen Teil einer schwindenden Mitte sind. Bodo Ramelows Linke wurde hauptsächlich von älteren Menschen und überdurchschnittlich vielen Frauen gewählt. Auch die guten Linken-Ergebnisse bei Menschen mit Hochschulabschluss sind bemerkenswert. Die AfD konnte vor allem bei Männern mit mittlerem oder niedrigem Bildungsabschluss Stimmen holen - und quer durch alle Altersklassen.

Neben dem nötigen Anstand fehlte noch etwas anderes in diesem Wahlkampf: die Wechselstimmung. Ramelow ist der beliebteste Politiker des Landes. Durch seinen Pragmatismus hat er das Image seiner Partei nachhaltig verändert, die Linke gilt im Osten schon länger als Partei der demokratischen Mitte. Doch die rot-rot-grüne Mehrheit in Thüringen war immer instabil, sie hing über weite Strecken an nur einer Stimme. Im April 2016 war der AfD-Abgeordnete Oskar Helmerich nach Streit mit Parteichef Björn Höcke zu den Sozialdemokraten übergelaufen, ein Jahr später aber wechselte die SPD-Abgeordnete Marion Rosin ins Lager der Christdemokraten. Es waren die Momente, in denen das Thüringer Regierungsmodell bundesweit Aufmerksamkeit erregte; ansonsten blieb es vergleichsweise ruhig.

Denkbar wäre nun eine Koalition aus Linkspartei, SPD, Grünen und FDP oder eben eine Minderheitsregierung. Dieses Bündnis aber geht mit den Liberalen nicht. Auch Mohring lehnt den "Sündenfall", eine Koalition aus CDU und Linken, strikt ab. Das Thema Minderheitsregierung hatte schon vor der Wahl Streit ausgelöst. Auch weil Ramelow der Thüringer Allgemeinen erklärt hatte, sich in diesem Fall keiner Abstimmung im Parlament stellen zu müssen und einfach im Amt zu bleiben. Anders als in Sachsen und Brandenburg gibt es in Thüringen keine Frist für eine Regierungsbildung. "Die Thüringer Landesregierung und ich, wir haben eine Verabredung für die nächsten fünf Jahre!", rief Ramelow seinen feiernden Anhängern auf der Wahlparty im Erfurter Zughafen zu. Als der Ministerpräsident von der Bühne stieg, liefen - was sonst - Ton Steine Scherben. Der Titel: "Die letzte Schlacht gewinnen wir."

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SZ vom 28.10.2019
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