Süddeutsche Zeitung

Stoiber über die EU:"Die Zeit der Bauherren ist vorbei"

Lesezeit: 4 min

EU-Chef-Entbürokratisierer Edmund Stoiber über die Zukunft Europas und den deutschen Einfluss auf die EU nach dem Karlsruher Lissabon-Urteil.

H. Prantl

SZ: Als oberster Entbürokratisierer der EU sorgen Sie dafür, dass es in Europa besser flutscht. Europa soll weniger kompliziert werden. Das Bundesverfassungsgericht macht aber im Lissabon-Urteil die Entscheidungsabläufe komplizierter als bisher. Sind Sie enttäuscht?

Edmund Stoiber: Im Gegenteil. Entbürokratisierung ist eine Arbeit für den Bürger; die Regeln sollen erstens einfacher, zweitens praktikabler und drittens durchschaubarer werden. In diesem Sinne ist das Lissabon-Urteil ein Enbürokratisierungs-Urteil: In seinem Kern fordert es eine umfassende Beteiligung des Bundestags an den wichtigen Entscheidungen, an den Rechtsetzungsakten der EU. Das ist wichtig und richtig, weil damit endlich Öffentlichkeit hergestellt wird. Nur wenn der Bundestag rechtzeitig und intensiv mit den Dingen befasst wird...

SZ: Rechtzeitig heißt?

Stoiber: Dann, wenn die europäischen Gesetze gemacht werden, nicht erst, wenn sie fix und fertig sind und ratifiziert werden müssen. Ein Beispiel: Das Gleichstellungsgesetz hat in der Berliner Koalition und in der deutschen Öffentlichkeit erst 2006 heftige Debatten ausgelöst. Da war die Sache auf EU-Ebene längst entschieden. Dort wurde 1999 der erste Entwurf beschlossen, das nahm in Deutschland keiner zur Kenntnis. 2000 war die Richtlinie im EU-Parlament; wieder nahm sie keiner in Deutschland zur Kenntnis, niemand hat sich geäußert.

SZ: Das EP forderte Verschärfungen.

Stoiber: Ja, aber ohne jede öffentliche Reaktion. Der EU-Ministerrat hat die Richtlinie samt den Änderungsvorschlägen einstimmig beschlossen. Das war 2001. Keinen hat es interessiert. Erst als die Sache fertig zum Vollzug nach Deutschland kam, begann die Debatte.

SZ: Die Arbeitgeberverbände empörten sich...

Stoiber: Zu spät. Ähnlich ist es bei den Arbeitsschutzgesetzen, ähnlich war es bei der Feinstaubrichtlinie, ähnlich ist es bei vielen anderen Rechtsbefehlen. Auf einmal sind sie da - und der Schreiner aus dem Bayerischen Wald, der den bestellten Schrank nach München fahren soll, darf nur noch nach München fahren, wenn er eine Tachografenscheibe im Lastwagen hat. So ein Gerät einzubauen, weil Europa das vom kleinen Handwerker verlangt, kostet einen Haufen Geld. Der Mann rennt schimpfend zum Landrat - und was machen die beiden dann? Sie schimpfen gemeinsam auf Europa! Entbürokratisierung beginnt also damit, dass der Bürger rechtzeitig von Dingen erfährt, die ihn betreffen und auf die er via Bundestag Einfluss nehmen kann.

SZ: Einfluss nehmen - dafür ist ja eigentlich das Europäische Parlament da?

Stoiber: Eigentlich. Die Erfahrung zeigt, dass das EU-Parlament keine nationale Öffentlichkeit herstellen kann.

SZ: Sie stimmen der Kritik der Verfassungsrichter am EU-Parlament zu?

Stoiber: Überhaupt nicht. Hier hat Karlsruhe unnötige Schärfe in die Debatte gebracht, indem es die demokratische Qualität des EU-Parlaments fälschlicherweise in Frage gestellt hat. Sicher stimmt es, dass ein Abgeordneter aus Malta oder Luxemburg sehr viel weniger Stimmen braucht als einer aus Frankreich oder Deutschland. Aber Schutzklauseln für Minderheiten haben wir doch bei Wahlen in deutschen Landtagen auch: Denken Sie an die Sorben in Sachsen, an die Dänen in Schleswig. Das Problem des EU-Parlaments ist, dass es keine ausreichende Öffentlichkeit hat.

SZ: Das ist doch ein Medienproblem.

Stoiber: Medienprobleme sind Öffentlichkeitsprobleme und damit Demokratieprobleme. Der Bundestag muss die Möglichkeit kriegen, bei wichtigen Dingen, bei den Rechtsetzungsakten des europäischen Rats, schon im Verhandlungsstadium etwas zu sagen und die Dinge zu prägen. Das macht die Entscheidungsabläufe womöglich langsamer, aber dafür viel besser. Europa funktioniert nicht mehr nach dem Vogel-friss-oder-stirb-Prinzip. Die Bürger sind keine Vögel, sondern der demokratische Souverän.

SZ: Jetzt sind wir beim Kern des "Begleitgesetzes" zum Lissabon-Vertrag, das nun ganz schnell noch vor der Bundestagswahl verabschiedet werden soll.

Stoiber: Und da wird man sich auf folgende Linie einigen: Bei den EU-Gesetzen, die dem Bundestag wichtig sind, schaltet er sich von vornherein ein, debattiert darüber und legt, wenn er dies will, seine Haltung fest. Das ist dann eine Verhandlungsanleitung für die Bundesregierung. Sie marschiert mit dem Rucksack des Bundestags nach Brüssel und ernährt sich dort bei den Verhandlungen in der Regel von dem Inhalt, der in diesem Rucksack ist. In Sonderfällen darf sie davon abweichen - und sich einladen lassen, wenn andere Regierungen aus ihren Rucksäcken was ganz anderes auspacken. So wird es Gesetz werden, und so ist es gut und demokratisch.

SZ: Fordert die CSU zu viel deutschen Einfluss in Europa?

Stoiber: Es geht nicht um "deutschen" Einfluss. Wir fordern mehr Bürgernähe, Öffentlichkeit, Demokratie. Die CSU war hier stets näher am Menschen als unsere Schwesterpartei CDU. Beim Begleitgesetz werden wir, die CDU/CSU, uns an die geschilderte Linie halten: erstens Umsetzung des Urteils eins zu eins, das ist selbstverständlich; zweitens für laufende EU-Rechtsetzungsverfahren, in dem Bereich, den das Urteil offen lässt, gewichtiger Einfluss des Bundestags.

SZ: Der Parlamentsvorbehalt wird andere EU-Staaten nerven.

Stoiber: Parlamentarische Demokratie ist doch keine deutsche Angelegenheit. In anderen EU-Staaten sind die Parlamentsvorbehalte schon jetzt markanter als hier. Nehmen Sie die hochgefährliche Geschichte mit den Bank-Daten, die die USA bei uns abgreifen. Am Montag haben die EU-Außenminister der Kommission den Auftrag erteilt, über die Verlängerung dieses Abkommens zu verhandeln. Der Auftrag erging unter Vorbehalt. Der Vorbehalt betrifft die Zustimmung des französischen Parlaments.

SZ: Sie sind so nahe an Karlsruhe wie noch nie. Ich erinnere daran, wie Sie als Ministerpräsident und CSU-Chef das Gericht nach der Kruzifix- und der Biergarten-Entscheidung verflucht haben.

Stoiber: Das Kruzifix-Urteil war auch keine Glanztat. Aber das ist lange her. Das Verfassungsgericht ist ein Gericht, das europaweit unglaublich großen Respekt genießt. Seine Auslegung des Lissabon-Vertrags hat Wirkkraft weit über Deutschland hinaus. Das Lissabon-Urteil hat gesamteuropäisches Gewicht.

SZ: Der grüne Ex-Außenminister Joschka Fischer hat die Richter als nationalistische Holzköpfe gescholten, die von der Einzigartigkeit und des Integrationsprozesses nichts verstünden.

Stoiber: Das ist die arrogante Position, die Europa an den Rand des Scheiterns gebracht hat. Mit dieser Haltung bleiben wir ein Europa der Eliten. Wir brauchen ein Europa der Bürger. Im übrigen ist es höchste Zeit, den Außenministern die Europapolitik aus der Hand zu nehmen. EU-Politik ist Innenpolitik, gehört ins Innenministerium oder Kanzleramt. Ich nenne eine Zahl: Von 1998 bis 2004 sind in Deutschland 21.000 Rechtsbefehle ...

SZ: Gesetze, Richtlinien, Paragrafen...

Stoiber: ... entstanden. Davon kamen 18.000 aus Europa. Sie wirken unmittelbar auf jeden Deutschen, haben erhebliche Auswirkungen auf seinen Alltag.

SZ: Bisher ist Europa von den Regierungschefs der wichtigen EU-Staaten gebaut worden. Hätte man auf die Parlamente gewartet, gäbe es die EU nicht.

Stoiber: Schon richtig. Große Europäer wie Jean Monnet und Helmut Kohl waren die Bauherren Europas. Sie haben das Haus Europa geplant und den Rohbau hingestellt. Aber die Zeit der Bauherren ist vorbei. Jetzt sollen die Familien dort einziehen. Sie sollen sich in den Wohnungen wohlfühlen - das werden sie nur, wenn sie selber mitreden können. Sie wollen die Raumplanung en detail bestimmen, sie wollen die Fußböden aussuchen, Parkett oder Keramik, das Bad aussuchen, sie wollen sich einrichten. Wir reden doch nicht vom All-inclusive-Hotel Europa, sondern vom Haus Europa. Ein Haus hat viele Wohnungen.

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Quelle:
SZ vom 1.8.2009
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