Süddeutsche Zeitung

Bundesratswahl in der Schweiz:Überraschung nach der "Nacht der langen Messer"

Lesezeit: 4 min

Die Schweiz hat zwei neue Regierungsmitglieder: Neben dem Favoriten Rösti zieht die Außenseiterin Baume-Schneider in den Bundesrat ein, was auch mit einem mächtigen Mann zu tun hat.

Von Isabel Pfaff, Bern

In Bern nennt man die Nacht vor einer Bundesratswahl die "Nacht der langen Messer". Die Schweizer Abgeordneten treffen sich dann in den Kneipen und Bars der Stadt, es wird gefeiert - und unter Umständen treffen die Politiker letzte, geheime Absprachen, bevor das Parlament am nächsten Morgen zur Wahl der Regierung zusammentritt. Immer mal wieder kam es auf diese Weise zu Überraschungen, etwa 2007, als SVP-Patron Christoph Blocher abgewählt wurde: Ein großer Block im Parlament hatte sich damals abgesprochen und wählte statt Blocher seine gemäßigte Parteikollegin Eveline Widmer-Schlumpf in den Bundesrat - ein Affront, schließlich sind Abwahlen im politischen System der Schweiz eigentlich nicht vorgesehen.

So ähnlich muss es auch diesmal gelaufen sein. Denn bei den Wahlen am Mittwochmorgen, bei denen es um die Neubesetzung von zwei der sieben Bundesratssitze geht, geschieht etwas Spektakuläres: Zwar gewinnt Albert Rösti den Sitz für die SVP, was praktisch alle erwartet haben. Doch bei den Sozialdemokraten schafft Elisabeth Baume-Schneider die Sensation und gewinnt knapp vor der als Favoritin gehandelten Eva Herzog. Was ist passiert?

Zu Erinnerung: Das Regierungssystem der Schweiz ist speziell. In dem siebenköpfigen Bundesrat sollen alle wichtigen politischen Kräfte des Landes gemäß ihrer Wählerstärke vertreten sein. Zur Zeit setzt sich das Gremium aus zwei Mitgliedern der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP), zwei der Sozialdemokraten (SP), zwei der liberalen FDP und einem Mitglied der Mitte-Partei zusammen.

Die Sozialdemokraten nominierten ausschließlich Frauen

Weil im Herbst ein SVP-Minister und eine SP-Ministerin ihren Rücktritt erklärt haben, musste das Parlament nun die beiden Sitze dieser Parteien neu besetzen. Neben der Parteizugehörigkeit und der regionalen Ausgewogenheit wollen immer mehr Parlamentarier bei Bundesratswahlen auch das Geschlecht der Mitglieder berücksichtigen. Denn die Schweiz, die Frauen erst seit 1971 politisch mitbestimmen lässt, hatte bislang erst neun Bundesrätinnen - und 112 Bundesräte.

Die Parteileitung der SP wollte ihren frei gewordenen Sitz deshalb unbedingt wieder mit einer Frau besetzen. Anderenfalls wären nur noch zwei der sieben Mitglieder weiblich. Sie rief ihre Fraktion also dazu auf, ausschließlich Frauen für die Wahl zu nominieren, und so kam es: Die offiziellen Kandidatinnen der SP hießen Eva Herzog, Kantons- und Bundespolitikerin aus Basel, und Elisabeth Baume-Schneider aus dem Kanton Jura, ebenfalls ehemalige Kantonspolitikerin und heutige Ständerätin.

Der Männer-Ausschluss passte nicht allen. Offen unzufrieden zeigte sich Daniel Jositsch, einflussreicher SP-Politiker aus Zürich. Seine Bundesratsambitionen sind schon lange bekannt, und so erklärte er im November seine Kandidatur, trotz der Vorgabe der Partei. Nominiert wurden am Ende trotzdem zwei Frauen - und an dieser Stelle kommt nun die "Nacht der langen Messer" ins Spiel.

Jositschs Name muss in der Nacht auf Mittwoch in den Berner Kneipen ein paar Mal gefallen sein. Denn am nächsten Morgen gaben die Abgeordneten nicht nur Stimmen für Herzog und Baume-Schneider ab, sondern auch für Jositsch: 58 von 243 erhielt er im ersten Wahlgang. Offenbar hatten einige Parlamentarier große Schwierigkeiten, eine Frau zu wählen - und Jositsch hatte wiederum kein Problem damit, als eine Art Querschläger aufzutreten. Sein Stimmenanteil schrumpfte dann zwar bis zum entscheidenden dritten Wahlgang, doch bis zuletzt schrieben ihn einzelne Abgeordnete auf ihren Zettel.

Die franko- und italophonen Schweizer sind nun im Bundesrat in der Mehrheit

Damit dürfte Jositsch die Wahl entscheidend gedreht haben. Denn eigentlich galt Eva Herzog als klare Favoritin: Bei Bundesratswahlen gewinnen üblicherweise nicht die radikalen, sondern die gemäßigten Politiker, denen zugetraut wird, Kompromisse mit allen Parteien zu finden - so wie Herzog, die im Gegensatz zu ihrer Konkurrentin eher zum rechten Flügel der SP zählt. Jositschs Manöver dürfte Herzog wertvolle Stimmen aus dem konservativen Lager gekostet haben. 123 Stimmen waren im dritten Wahlgang nötig für einen Sieg - und exakt so viele erhielt ihre Konkurrentin Elisabeth Baume-Schneider.

Als die Gewinnerin ans Rednerpult tritt, strahlt sie, bedankt sich auf Französisch und Deutsch bei ihrer Familie und dem Kanton Jura, der mit ihr zum ersten Mal im Bundesrat vertreten ist. "Die Stärke eines Volkes bemisst sich am Wohl der Schwachen", das sei ihr politisches Credo, sagt sie, und das wolle sie auch in den Bundesrat tragen. Dann verheddert sie sich ein bisschen, will auch etwas auf Italienisch und Rätoromanisch sagen, wie es üblich ist in der Schweizer Politik, aber sie hat vergessen, sich die Sätze zu notieren, so überrascht ist sie offenbar von ihrem Sieg. "Das nächste Mal mache ich es besser!", ruft sie in den Saal.

In der ganzen Aufregung geht der erste Sieger des Tages fast ein bisschen unter. Nur einen einzigen Wahlgang benötigte der SVP-Politiker Albert Rösti ein paar Stunden zuvor, um Bundesrat zu werden - ein glänzendes Ergebnis, das allerdings auch so erwartet worden war. Rösti ist so vernetzt und beliebt wie wenige andere Politiker in Bern, seit 2011 sitzt er im Nationalrat, von 2016 bis 2020 war er zudem Präsident seiner Partei. Obwohl er in dieser Funktion eine der schmutzigsten Wahlkampagnen der SVP verantwortete, gilt er quer durch alle Lager als zugänglich und kompromissorientiert - eben: bundesratsfähig. Er meistert in seiner Rede die Viersprachigkeit ohne Holperer und betont die Vielfalt der Schweiz und die gegenseitige Rücksichtnahme, auf die es in diesem System ankomme. "Für Sie alle wird die Tür meines Büros immer weit offen sein."

Gegen Mittag geht der Wahltag in Bern zu Ende. Er verändert die Schweizer Regierung stärker als erwartet. Mit dem Oberländer Rösti und Baume-Schneider, der Jurassierin vom Dorf, wird der Bundesrat künftig ländlicher geprägt sein. Die arme Schweiz, die Randgebiete werden wohl öfter Thema werden. Und: Mit Baume-Schneider sind die Lateiner im Bundesrat, also die franko- und italophonen Schweizer, plötzlich in der Mehrheit.

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