Süddeutsche Zeitung

Sachsen-Anhalt:Die Koalition, die sich selbst toleriert

Lesezeit: 3 min

Drei mal Ja zum Koalitionsvertrag, obwohl darin ein unklarer Satz zu "Integrationsobergrenzen" steht: Der Weg für die schwarz-rot-grüne Koalition in Magdeburg ist frei.

Von Cornelius Pollmer, Magdeburg/Burg

Formal betrachtet hat Sachsen-Anhalt ein eher unspektakuläres Wochenende hinter sich gebracht, mit drei Parteitagen und drei Ergebnissen: Für die Annahme des frisch ausgehandelten Koalitionsvertrages stimmten bei der CDU 83,6 Prozent, bei der SPD 94 Prozent, bei den Grünen 98,4 Prozent.

Formal betrachtet ist damit die vorletzte Aufgabe auf dem Weg zur schwarz-rot-grünen "Kenia"-Koalition erledigt und formal betrachtet gilt es für die drei Parteien an diesem Montag, die letzte und größte Herausforderung zu bewältigen: die Wahl von Reiner Haseloff (CDU) zum Ministerpräsidenten bei - vernünftig gerechnet - nur zwei Stimmen Mehrheit im Magdeburger Landtag.

Informell betrachtet hat Sachsen-Anhalt gerade ein ziemlich bemerkenswertes Wochenende erlebt, mit drei Parteitagen und einem eindrücklichen Ergebnis: Dieses Land wird mit "Kenia" nicht nur aller Wahrscheinlichkeit nach eine neue Koalition bekommen, es wird eine neu-neu-neue Koalition bekommen.

Zum Ersten neu ist die "Kenia", weil in dieser Zusammenstellung noch nie ein Bundesland regiert worden ist. Zum Zweiten neu ist "Kenia", weil nicht mal in seinem Entstehen die beteiligten Partner ihre Gemeinsamkeiten betonen, sondern teils derb, teils spöttisch ihre Unterschiede herausarbeiten. Zum Dritten neu ist "Kenia" schließlich, weil die Schwarzen, die Roten und die Grünen es zudem irgendwie in Ordnung finden, dass alle Partner hauptsächlich sagen, dass sie gar nicht so gerne Partner werden möchten.

Freitagabend, ein Saal in Magdeburg. Thomas Webel, der CDU-Landesvorsitzende, hat ein Problem und das klebt auf seinem Kopf. Ein Pflaster. Weil alle auf das Pflaster starren, geht Webel lieber selbst in die Offensive, gleich zu Beginn seiner Rede. Nun, das Pflaster, eine medizinische Sache, es sei jedenfalls nicht so, dass die Grünen seinen Kopf gefordert hätten.

Koalitionsvertrag enthält Integrationsobergrenze

Das wäre nun eine Bemerkung aus der Kategorie "freundlicher Seitenhieb", wenn nicht folgen würde, was folgt: Webel berichtet von der Integrationsobergrenze, die man im Vertragswerk festgehalten habe, denn "Multikulti ist nicht mehr, es lebe die deutsche Leitkultur!" Deswegen wolle seine Partei - Gottes Gnade vorausgesetzt - in fünf Jahren wieder alleine regieren, mindestens aber in einer anderen Konstellation.

Man sei jedenfalls, sagt Webel, "bereit, alles dafür zu tun, dass diese fünf Jahre eine einmalige Periode bleiben". Es dampft im Saal, und dass es nicht kocht, liegt vor allem an den mäßigenden Worten von Ministerpräsident Reiner Haseloff. Dieser Montag, "liebe Freundinnen und Freunde", der werde der Tag der Wahrheit, die CDU müsse aus "staatspolitischer Verantwortung" diese Koalition ermöglichen, das habe ihm, Haseloff, auch Bundeskanzlerin Angela Merkel so gesagt.

Mit Verantwortung meint er zuvorderst seine eigene Fraktion, von der er an diesem Montag jede Stimme gebrauchen kann und fast alle nötig hat, und von der einige es lieber sähen, wenn ihre Partei sich mit den Konservativen der AfD verbünden würde. Es gehe nun um Geschlossenheit, sagt Haseloff, und nicht darum, "ob man mal gerangelt hat oder die persönliche Chemie nicht stimmt".

Gerangelt wird ja ohnehin schon genug zwischen den Parteien. Samstagvormittag, ein Saal in Burg. Burkhard Lischka, der neue Trümmervorsitzende einer 10,6-Prozent-SPD, zeichnet zunächst den erstaunlichen Weg der SPD seit der Wahl nach. Seine Partei habe sich rasch wieder aufgerichtet - und gilt nach ihrem Absturz im März nun schon wieder als stabilisierender Faktor zwischen den spinnefeindseligen Unionsleuten und Grünen. Dann aber kommt Lischka auf Webel zu sprechen, auf dessen Multikultisatz, der zeige: "Von Integration verstehen die nichts", und nur deswegen dürfe man der CDU nicht im Schulterschluss das Land überlassen.

Samstagmittag, ein Saal in Magdeburg. Man kommt ein bisschen zu spät zu den Grünen und doch genau richtig, denn Claudia Dalbert ist gerade in ihrer Thomas-Webel-Passage angekommen. Die designierte Landwirtschaftsministerin sagt, sie finde seine Aussagen "unlauter, ja, unlauter", und dabei geht es ihr gerade um die Saale, nicht um den Multikulti-Satz.

Unkonkrete Formulierungen + Finanzierungsvorbehalt + CDU-Finanzminister = wird schon

Auf allen drei Parteitagen ist zu hören, wie "unendlich viel" man jeweils herausgeholt habe in den Verhandlungen. Formal betrachtet ist der Vertrag tatsächlich röter und grüner geraten, als die prozentualen Ergebnisse dies hätten vermuten lassen. Informell betrachtet hofft man vor allem bei der CDU, dass eine gewisse Gleichung noch zu eigenen Gunsten aufgehen wird: unkonkrete Formulierungen im Koalitionsvertrag + Finanzierungsvorbehalt + CDU-Finanzminister = wird schon.

Auf allen drei Parteitagen sind eigentlich absolute Sätze zu hören wie der von Conny Lüddemann, Landesvorsitzende der Grünen: "Das ist ein Projekt, das keiner der Beteiligten will. Also: keiner." Auf allen drei Parteitagen ist aber auch die Vermutung zu vernehmen, nach der Wahl Haseloffs werde sich schon ein Arbeitsfrieden einstellen. Holger Stahlknecht etwa, CDU-Innenminister, sagt, das Kabinett habe er auch in der bisherigen Regierung als "Kollegialorgan" wahrgenommen und nicht nur die Fraktion flatterte eben immer etwas freier.

Ein Regelwerk fürs Rangeln könnte ja ein guter Koalitionsvertrag sein. Ein beispielhafter Blick also, was sagt dieser zur Obergrenze? Er sagt: "Wir akzeptieren daher, dass die CDU ... von objektiven Integrationsobergrenzen spricht". Wir? CDU? Vielleicht ist das schon das vierte "neu" der sich anbahnenden "Kenia"-Koalition: Sie könnte die erste sich selbst tolerierende Regierung bedeuten.

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SZ vom 25.04.2016
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