Süddeutsche Zeitung

Karibik:Haitis Premier weicht dem Druck

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Zuletzt konnte er nicht einmal mehr zurück in seine Heimat: Ariel Henry, der umstrittene Chef der Interimsregierung, ist zurückgetreten. In seinem Krisenstaat herrscht Erleichterung - und große Sorge.

Von Christoph Gurk, Buenos Aires

Überraschend kam der Rücktritt von Haitis Regierungschef Ariel Henry nicht - die große Frage ist nun, wie es weitergeht mit dem von Krisen, Katastrophen und Kriminalität gebeutelten Land.

Am späten Montagabend hatte sich Henry laut der karibischen Staatengemeinschaft Caricom bereiterklärt, sein Amt niederzulegen, sobald ein Übergangsrat in Haiti gebildet sei und ein vorübergehender Nachfolger ernannt. In einer aufgezeichneten Videobotschaft bat der Politiker später dann noch alle Haitianer, Ruhe zu bewahren und alles zu tun, damit "Frieden und Stabilität so schnell wie möglich zurückkehren".

Der 74-jährige Henry war als Regierungschef höchst umstritten. Sein Amt angetreten hatte er, nachdem 2021 der damalige Präsident Jovenel Moïse in seinem Schlafzimmer unter bis heute nicht ganz geklärten Umständen in einem Vorort der Hauptstadt Port-au-Prince ermordet worden war.

Nach drei Jahren im Amt ist nicht einmal ein Wahltermin in Sicht

Um die Nachfolge entbrannte ein wochenlanger Machtkampf, bei dem sich am Ende Henry durchsetzen konnte. Der Mitte-links-Politiker und ausgebildete Neurochirurg wurde als Interimspremierminister vereidigt. Aus dem Ausland genoss er zunächst Unterstützung, allen voran von den USA. Dieser Rückhalt schwand aber zunehmend, auch, weil Henry es selbst nach fast drei Jahren im Amt nicht geschafft hatte, ein Datum für ordentliche Neuwahlen festzulegen.

In Haiti selbst war Henrys Übergangsregierung zunehmend verhasst. Der völlig verarmte Karibikstaat hat heute weder ein Parlament noch einen Präsidenten. In Abwesenheit eines funktionierenden Staatsapparates übernahmen zunehmend Gangs die Macht, und am Ende waren es wohl auch sie, die Henry zum Rücktritt zwangen. Eigentlich hätte dieser Anfang Februar aus dem Amt scheiden sollen. Stattdessen aber vereinbarte er mit Teilen der Opposition eine gemeinsame Regierung bis zur Abhaltung von Neuwahlen, die irgendwann in den nächsten zwölf Monaten stattfinden sollten.

Als Henry dann Ende Februar nach Kenia reiste, brach in seiner Heimat eine Welle der Gewalt los. Gangs plünderten Geschäfte und griffen Polizeistationen an. Tausende Häftlinge wurden aus Gefängnissen befreit und auch der internationale Flughafen angegriffen, die Bevölkerung ist terrorisiert. Henry konnte nicht zurückkehren und musste stattdessen nach Puerto Rico reisen. Dort harrte er aus, während Banden damit drohten, Haiti vollends in einen Bürgerkrieg zu stürzen, sollte er nicht zurücktreten.

Dass der umstrittene Interimsregierungschef nun erklärt hat, seine Ämter abgeben zu wollen, ist darum einerseits eine Erleichterung. Der Präsident von Guyana, Irfaan Ali, der derzeit auch der karibischen Staatengemeinschaft Caricom vorsitzt, sagte nach einer Dringlichkeitssitzung in Jamaika, er wolle Ariel Henry für seinen "Dienst an Haiti" danken.

Fast die Hälfte der Menschen leidet Hunger

Gleichzeitig ist die Sorge aber auch groß, dass die politische Krise die ohnehin schon katastrophale Lage im Land weiter verschlimmern könnte. Laut Angaben der Vereinten Nationen hungern derzeit in Haiti mehr als vier Millionen Menschen - bei einer Gesamtbevölkerung, die wenig mehr als doppelt so groß ist. Teilweise gibt es weder fließendes Wasser noch Strom. Seuchen grassieren und die Polizei ist kaum in der Lage, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten.

Nun soll in Port-au-Prince abermals eine Übergangsregierung gebildet werden, bestehend aus einem siebenköpfigen Präsidialrat mit Vertretern aus Wirtschaft, Zivilgesellschaft und religiösen Gruppen. Dieser soll dann erneut einen Interimspremierminister bestimmen und als langfristiges Ziel die Abhaltung von Wahlen ermöglichen. Seit Anfang 2023 die Amtszeiten der letzten zehn Senatoren ausgelaufen sind, gibt es in Haitis Politik keine gewählten Volksvertreter mehr.

Die USA stellten umgehend 100 Millionen Dollar für die Entsendung einer internationalen Mission in Aussicht, welche die Ordnung in Haiti wieder herstellen soll. Einfach allerdings wird das nicht, denn die gewalttätigen kriminellen Gangs im Land haben heute große Macht und vermutlich auch riesige Waffenarsenale. Bandenboss Jimmy Chérizier, genannt "Barbecue", sieht sich derweil als Befreier der Haitianer von einem "bösen System", er droht mit einer "blutigen Revolution".

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