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Politik-Initiativen:Vite, vite - schnell, schnell

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Warum es die Franzosen in Brüssel in den kommenden Wochen überaus eilig haben dürften.

Von Matthias Kolb, Brüssel

Es gibt einige in Brüssel, die sich auf diesen Jahreswechsel gefreut haben. Denn dadurch ist die Zeit vorbei, in der Slowenien die EU-Ratspräsidentschaft innehatte und jeder der vielen Tweets von Premier Janez Janša für Aufregung sorgen konnte. Der Trump-Fan Janša attackiert gern Journalisten und beleidigt gerne einmal kritische EU-Abgeordnete. Von Frankreich, das nun den Vorsitz im Rat der Mitgliedstaaten übernimmt, erwartet man Esprit und Ehrgeiz. In den ersten Wochen. Ein EU-Diplomat spricht von einer "Präsidentschaft mit Pause", was die Sache gut trifft.

Denn noch mehr als durch die Europa-Begeisterung Emmanuel Macrons und dessen ausufernde Reden wird diese Ratspräsidentschaft durch die französische Präsidentschaftswahl im April geprägt werden. Macron will die EU souveräner, unabhängiger und schlagkräftiger machen und bis zur ersten Runde am 10. April braucht er "deliverables", wie man im Brüssel-Jargon vorzeigbare Ergebnisse nennt. Dass ihm dafür nur bis Mitte März Zeit bleibt, liegt an den Regeln für französische Beamte: Sie dürfen in den vier Wochen vor der Abstimmung nichts mehr tun, was ihre Unparteilichkeit infrage stellen würde. Nach dem Sondergipfel am 10. und 11. März, bei dem Macron ein "neues Wachstumsmodell" für Europa definieren will, schaltet der Pariser Betrieb auf Autopilot.

"Weniger naiv", so wünscht sich Macron die EU, die weltweit zu einer "digitalen Macht" aufsteigen soll. Dazu gehören neben Hilfen für Start-ups strenge Regeln für Plattformen wie Google oder Facebook. Über das "Gesetz für digitale Märkte" wird Frankreich für die 26 anderen EU-Mitglieder mit dem Europaparlament verhandeln - und beide Seiten wollen verhindern, dass die Tech-Giganten ihre Marktmacht missbrauchen. Das "Gesetz für digitale Dienste" soll den Nutzern mehr Rechte geben und personalisierte Werbung erschweren. Werden hier bis Anfang März Einigungen erzielt, zeigt die EU erneut, dass sie globale Standards setzen und den Alltag der Menschen verbessern kann. Und Macron kann sagen, dass dies unter französischer Führung gelang. Dass sowohl Kommissionschefin Ursula von der Leyen als auch EU-Ratspräsident Charles Michel ihm ihre Jobs verdanken, wird Macron nicht schaden.

Es ist ein Brüsseler Ritual, dass alle sechs Monate ein anderes Land betont, als "ehrlicher Makler" agieren zu wollen. Eigene Prioritäten sind erwünscht, doch wer an der Spitze zu offensiv seine Ziele voran treibt, wird ausgebremst. Auch Deutschland konnte 2020 nicht alles durchsetzen. Den Franzosen, so ist zu hören, wurde erklärt, dass eindeutige Wahlkampfmanöver oder Angstmacherei wie "Das ist nötig, damit Marine Le Pen nicht gewählt wird" nicht goutiert werden.

Erkennbar wurde zuletzt, dass Paris bei manchen Themen weniger ambitioniert auftritt - oder schlicht realistischer. Weder die von Frankreich oder Italien geforderte Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts wird bis Ende Juni beschlussfähig sein noch das Klimapaket "Fit for 55", mit dem die EU ihren Ausstoß an Treibhausgasen bis 2030 um 55 Prozent reduzieren will. Die hohen Energiepreise haben bereits auf zwei Gipfeln zu erbittertem Streit geführt, der wohl erst nachlässt, wenn sich die Lage auf den Märkten entspannt. Die Debatte über die Ausweitung des Emissionshandels auf Gebäude und Transport will Paris vertagen, damit es nicht zu Protesten der Gelbwesten-Bewegung kommt.

Vorantreiben will Frankreich die CO₂-Grenzsteuer - diese soll verhindern, dass Russland, China oder die Türkei Eisen, Stahl oder Aluminium billiger anbieten können, weil sie weniger Klimaschutz als die EU betreiben. Dies passt ebenso zum "souveränen Europa", das Macron als Motto ausgerufen hat, wie die Forderungen nach einer Reform des Schengen-Raums und Fortschritten beim Migrationspakt. Hier sind die Verhandlungen völlig festgefahren. Ein Durchbruch erscheint unmöglich, aber auf Macrons Impulse hoffen alle.

Unstrittig ist in Brüssel, dass Frankreich für eine professionelle Organisation sorgen wird und mit der Größe seines diplomatischen Apparats sofort auf Krisen reagieren kann. Denn Ratspräsidentschaften lassen sich nur bedingt planen: So ist die Lage an den Grenzen der Ukraine zu Russland weiter brisant. Gleichzeitig breitet sich die Omikron-Variante in Europa rasend schnell aus. Dies könnte nicht nur die Prioritäten der Franzosen ändern, sondern auch deren Arbeit behindern: Müssen wieder mehr Sitzungen per Video abgehalten werden, sind Kompromisse schwerer zu finden.

Briefe nach Paris bitte nur auf Französisch

Wenig spricht dafür, dass sich EU-interne Probleme wie der Rechtsstaatsstreit mit Polen und Ungarn entschärfen lassen. Vielmehr könnte Ungarns Premier Viktor Orbán vor der Wahl im Frühjahr erneut Anti-EU-Kampagnen anordnen - und in Warschau haben schon nationalkonservative Minister gedroht, per Veto den EU-Politbetrieb lahmzulegen, wenn die Fördergelder aus dem Corona-Hilfsfonds nicht bald fließen. Im Dezember nannte Macron Werte wie Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit "nicht verhandelbar" - es spricht einiges dafür, dass er beweisen muss, wie ernst diese Worte gemeint waren.

Dass Paris die Ratspräsidentschaft nutzen will, um die Hegemonie des Englischen in den EU-Institutionen zu brechen und Französisch als Arbeitssprache zu fördern, hat Brüsseler Diplomaten nicht überrascht. Vielen aus Nord- und Osteuropa bereiten manche Ankündigungen dennoch Sorge. So will die Ratspräsidentschaft nur auf Briefe der EU-Kommission antworten, die auf Französisch geschrieben sind, und auch viele Pressemitteilungen gibt es nicht auf Englisch. Panik ist jedoch nicht zu spüren: In Brüssel ist man sich sicher, dass Frankreichs Diplomaten pragmatisch genug agieren werden, um Effizienz und Erfolge nicht durch Sprachpurismus zu gefährden.

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