Süddeutsche Zeitung

Nord-Afghanistan:Bundeswehr zählt mehr Angriffe

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Deutlicher Anstieg: Im Verantwortungsbereich der Bundeswehr im Norden Afghanistans hat es im vergangenen Jahr wesentlich mehr sicherheitsrelevante Zwischenfälle gegeben als im Jahr davor. Eine Verschlechterung der Sicherheitslage bedeute das aber nicht.

Von Christoph Hickmann und Tobias Matern

Im nordafghanischen Verantwortungsbereich der Bundeswehr ist die Zahl der sogenannten sicherheitsrelevanten Zwischenfälle im vergangenen Jahr deutlich gestiegen. Das Einsatzführungskommando bestätigte am Mittwoch Zahlen, über die zunächst die Nachrichtenagentur dpa berichtet hatte. Demnach kam es im Jahr 2013 bis November zu 1660 solcher Zwischenfälle, während es im gesamten Jahr 2012 noch 1228 gewesen waren. Dies entspricht einem Anstieg um 35 Prozent, ohne dass die letzten Wochen des Jahres bereits berücksichtigt wären.

Die Agentur berichtete außerdem über Zahlen der internationalen Schutztruppe Isaf, nach denen die Gewalt sogar noch stärker zugenommen habe. Demnach hätten die "feindlichen Angriffe" in Nordafghanistan im ersten Halbjahr 2013 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 99 Prozent zugenommen, in den zweiten sechs Monaten um 26 Prozent. Die Zahlen von Isaf und der Bundeswehr sind nicht miteinander vergleichbar, da ihnen verschiedene Definitionen von Zwischenfällen zugrunde liegen.

Kursschwenk bei Isaf und Bundeswehr

Sowohl die Bundeswehr als auch Isaf hatten zuletzt keine Zahlen zu Zwischenfällen mehr veröffentlicht. Zur Begründung hatte es geheißen, die Zahlen beruhten mittlerweile zu großen Teilen auf Angaben der afghanischen Sicherheitskräfte und seien nur noch bedingt zuverlässig. Bei der Veröffentlichung der jüngsten Zahlen handelt es sich also um einen Kursschwenk.

Zur Begründung des Anstiegs führte das Einsatzführungskommando ein "sehr hohes Operationstempo" der afghanischen Sicherheitskräfte an, die im Norden des Landes "ihre übernommene Sicherheitsverantwortung umfänglich wahrnehmen". Dies führe zu einem Anstieg der Zwischenfälle, der "nicht automatisch mit einer Verschlechterung der Sicherheitslage gleichgesetzt werden" könne.

Trotz der Zahlen haben die Menschen in Kundus offenbar das Gefühl, ihre Sicherheitslage habe sich seit Abzug der Bundeswehr im Oktober zumindest nicht verschlechtert. Es komme außerhalb der Provinzhauptstadt zwar immer wieder mal zu Zwischenfällen mit den Taliban, das war aber bereits der Fall, als die deutschen Soldaten hier noch stationiert waren.

"Es herrscht allgemein eine große Verunsicherung über den Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan und über die wirtschaftliche Lage", sagte ein Bewohner von Kundus der SZ am Mittwoch. Hunderte Menschen hätten ihre Jobs verloren, seit die Bundeswehr ihren Stützpunkt geräumt habe. Auch zögen die Menschen immer wieder Vergleiche mit Badachschan, einer nördlichen Provinz, in der sich einige Monate nach dem Rückzug der Truppen die Sicherheitslage verschlechtert hatte. Die Angst vor der Zukunft sei massiv.

Die Afghanen befürchten, dass Ende des Jahres nicht nur der Kampfeinsatz des Westens endet, sondern die USA und ihre Partner sämtliche Truppen abziehen werden. Vorgesehen ist eigentlich, dass einige Tausend Soldaten am Hindukusch stationiert bleiben, um die einheimischen Sicherheitskräfte zu unterstützen. Präsident Hamid Karsai weigert sich aber, ein dafür erforderliches Truppen-Stationierungsabkommen mit den USA zu unterzeichnen.

Mehrere Szenarien denkbar

Die Bundeswehr muss deshalb für mehrere Szenarien planen. Entweder kommt die Isaf-Nachfolgemission zustande, dann wird die Bundeswehr auch 2015 in Afghanistan vertreten sein, geplant wird mit 600 bis 800 Soldaten für die Ausbildung afghanischer Kräfte. Oder das Abkommen scheitert endgültig, und die sogenannte Nulloption wird Realität. "Wir planen mit beiden Optionen", heißt es aus dem Verteidigungsministerium. Als wahrscheinlicher gilt dort, dass die Ausbildungsmission kommt.

Vor diesem Hintergrund wird das nächste Afghanistan-Mandat für den Bundestag vorbereitet. Am 5. Februar soll es im Kabinett auf der Tagesordnung stehen. Agnieszka Brugger, Grünen-Obfrau im Verteidigungsausschuss, sagt: "Die Bundesregierung muss den Abzug in jedem Fall so planen, dass die Nulloption wirklich möglich bleibt. Sie muss mehr als nur eine theoretische Möglichkeit sein."

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Quelle:
SZ vom 16.01.2014
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