Süddeutsche Zeitung

Niederlande:Rechte im Schutz der Meinungsfreiheit

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Der rechtsextreme Politiker Thierry Baudet und seine Partei provozieren im niederländischen Parlament. Die Rechte radikalisiert sich, doch Politik und Gesellschaft finden keine Antwort. Nun scheint eine rote Linie überschritten worden zu sein.

Von Thomas Kirchner, München

Es war eine direkte und unmissverständliche Drohung, die der rechtspopulistische Abgeordnete Pepijn van Houwelingen vom Forum für Demokratie (FvD) am Mittwoch im niederländischen Parlament ausstieß. "Ihre Zeit wird kommen, denn es wird Tribunale geben", schleuderte er dem Kollegen Sjoerd Sjoerdsma von Democraten 66 (D66) entgegen. Der Linksliberale hatte van Houwelingen aufgefordert, sich von Äußerungen seines Parteichefs Thierry Baudet zu distanzieren. Dieser hatte zuvor die Corona-Politik der Regierung in einem Tweet zum wiederholten Male mit der Nazipolitik verglichen und Ungeimpfte als die "neuen Juden" bezeichnet.

Eine Drohung mit "Tribunalen", in denen gemeinhin Kriegsverbrecher abgeurteilt werden - mitten in der Volksvertretung? Das ist, auch wenn die Niederlande sich in jüngster Zeit fast gewöhnt haben an immer schärfere Auseinandersetzungen und eine gewisse Verrohung der Sitten in Den Haag, ein neuer Tiefpunkt der politischen Kultur. Sjoerdsma sah eine Grenze überschritten. Er habe Ähnliches in neun Jahren als Abgeordneter nicht erlebt, sagte er empört. Sie schäme sich für Baudet, hatte D66-Fraktionschefin Sigrid Kaag zuvor erklärt, "er verletzt Menschen mit seinen Worten".

Die niederländische Rechte radikalisiert sich. Das gilt vor allem für Baudet, der sich zum Retter aller Freiheitsliebenden vor einer angeblich drohenden Corona-Diktatur einschließlich Orwell-mäßiger Totalüberwachung mittels QR-Codes aufgeschwungen hat und zunehmend auftritt, als rüste er sich für einen unmittelbar bevorstehenden Endkampf. Das Coronavirus hält er für harmlos.

Mit Abscheu und auch etwas Faszination hat die politische Konkurrenz beobachtet, wie Baudet die Hülle des nostalgischen Konservativen abgelegt und sich als rechtsextremer Hardliner entpuppt hat. Er traf den rechtsextremen französischen Politiker Jean-Marie Le Pen und den amerikanischen Alt-Right-Propagandisten Jared Taylor, trat beim flämischen Rechtsextremistentreffen IJzerwake auf und ist äußerst geschickt in der Kunst der Dog Whistle, also des Spiels mit Begriffen, Symbolen und Memes, über die identitäre Kreise miteinander kommunizieren und ihre Gesinnung zum Ausdruck bringen.

Faktenfreie Aussagen zum Klimawandel und zum Impfen

Das Wort Holocaust schrieb er jüngst in Anführungszeichen. Über offenkundigen Rassismus in seiner Anhängerschaft und bei der Nachwuchsorganisation des FvD zuckt er nur mit den Schultern. Zuletzt ist er mit faktenfreien und immer extremistischeren Aussagen zum Klimawandel und zum Impfen hervorgetreten und ruft nun zum "Widerstand" auf. Seine Partei, das FvD, sitzt nach mehreren Abspaltungen mit nur noch fünf Abgeordneten im Parlament.

Wie geht man um mit solchen Leuten? Ihre Provokationen ignorieren, um ihnen nicht noch mehr Aufmerksamkeit zu geben? Oder jedes Mal entgegentreten, um den Anfängen zu wehren? Das sei ein "Dilemma", gestand die Linksliberale Kaag auf Twitter ein. Justizminister Ferdinand Grapperhaus konstatierte "verletzende Worte gegenüber den Juden und der jüdischen Gemeinschaft", mehr nicht. Die Niederlande haben noch kein Rezept gefunden.

Doch halten manche das Maß nun für mehr als voll, es sei Zeit für deutlichere Ansagen. "Es ist jetzt so weit, wir müssen ganz klar aussprechen, dass das nicht okay ist und dass wir etwas dagegen tun müssen", sagte die jüdische Kolumnistin Natascha van Weezel in der täglichen öffentlich-rechtlichen Talkshow "Op1" nach dem Eklat im Parlament. Van Weezel berichtete von Hunderten Drohungen und Beschimpfungen, die sie aus rechten Kreisen erhalte. Der Autor und FvD-Experte Chris Aalberts sagt, Baudets Äußerungen seien inzwischen eine "Gefahr für den Staat". Der Politiker habe den parlamentarischen Weg längst verlassen. Seine bedenkliche Strategie müsse angeprangert werden. Tatsächlich könnten auch van Houwelingens "Tribunale" mehr als eine Drohung sein: Die von Baudet unterstützte Aktivistengruppe "Police for Freedom" hat eine "unabhängige" Polizei samt eigenem "Recherchedienst" gegründet. Baudet selbst ruft seit Längerem dazu auf, eine Art parallelen Staat mit eigenen Institutionen zu schaffen.

Doch was genau zu tun wäre, um ihn und seine Anhänger zu stoppen, darüber herrscht weitgehend Ratlosigkeit. Im Parlament darf unter dem Schutz der Meinungsfreiheit nahezu alles gesagt werden, ohne dass das Präsidium den Abgeordneten ins Wort fallen würde. Die amtierende Parlamentsvorsitzende hätte van Houwelingen sanktionieren können, tat es aber nicht. Und die Medien, die Baudet viel Raum bieten? Die Reaktion von "Op1" war bezeichnend. Man lade keine Menschen ein, die andere bedrohten, lautete am Mittwochabend die Begründung, warum kein Vertreter des FvD in die Sendung gebeten wurde.

Der Weg über die Gerichte ist mühsam

Allerdings beeilte sich die Redaktionsleitung hinzuzufügen, dass dies keinesfalls als dauerhafter Ausschluss Baudets, als eine Art "cordon sanitaire", zu verstehen sei. Mit anderen Worten: Wenn der rechtsradikale Abgeordnete gerade mal niemanden bedroht, dürfte er wieder vor die Fernsehkamera treten.

Am Ende bleibt wohl nur die Justiz. Es ist mit Anzeigen wegen Volksverhetzung oder Ähnlichem zu rechnen, mit denen sich Richter beschäftigen müssen. Allerdings sei die Beweisführung nicht einfach, warnte der Oberstaatsanwalt Rutger Jeuken in "Op1". So müsse etwa van Houwelingen konkret nachgewiesen werden, eine Straftat geplant zu haben. Wie mühsam solche Nachweise sein können, zeigte vor Jahren der Prozess gegen Geert Wilders. Für eine Hassrede gegen Marokkaner kassierte der Islamkritiker nur eine Verurteilung wegen "Beleidigung einer Gruppe". Geläutert ist er keineswegs. Auch Wilders drohte jüngst in einem Video politischen Gegnern mit einem "Tribunal".

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