Süddeutsche Zeitung

Litauen und Russland:Heikler Zug

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Der Eisenbahnkorridor durch Litauen, der Russland mit seiner Exklave Kaliningrad verbindet, war von Anfang an ein schwieriges Thema.

Von Kai Strittmatter, Kopenhagen

Für ein kleines Land von gerade mal 2,8 Millionen Einwohnern hat es Litauen immer gut verstanden, die Aufmerksamkeit des großen Nachbarn Russland auf sich zu ziehen. Nur selten war diese wohlwollend. Litauen war im März 1990 die erste der ehemaligen Sowjetrepubliken, die ihre Unabhängigkeit erklärte, der erste Dominostein, der fiel und die anderen mit sich riss. Viele Politiker in Moskau haben den Litauern das nie vergessen.

Die gegenseitige Animosität ist seither eher noch gewachsen. Litauische Politiker gehörten im Chor der russlandkritischen Stimmen aus dem Baltikum stets zu den lautstärksten Mahnern. Am 10. Mai erklärte das litauische Parlament in Vilnius den russischen Krieg in der Ukraine zum Genozid und Russland selbst zu einem "Staat, der Terrorismus unterstützt und ausübt".

Dass der russische Provokateur, Ultranationalist und Parlamentsabgeordnete Jewgeni Fjodorow sich dann ausgerechnet Litauen als Objekt seines Zornes aussuchte, war kein Zufall: Fjodorow brachte vor gut zwei Wochen in der russischen Duma einen Gesetzesantrag ein, der zum Ziel hat, die sowjetische Anerkennung der Unabhängigkeit Litauens vom September 1991 wieder einzukassieren, Litauen also von der Landkarte zu tilgen.

So überraschend ist es also nicht, dass in politisch unruhigen Zeiten der Eisenbahnkorridor quer durch Litauen zum Zankapfel wird. Und dass im Angesicht der von Russland angedrohten Vergeltung für die angebliche Eisenbahnblockade durch Litauen sich der Blick auch wieder auf die Suwalki-Lücke richtet: jenen kleinen Zipfel litauisch-polnischen Grenzgebietes südlich der Eisenbahnstrecke, der oft die Achillesferse der Nato genannt wird, weil es die einzige Landverbindung ist zwischen EU auf der einen Seite und dem Baltikum auf der anderen Seite.

Kaliningrad (das frühere Königsberg) ist eine russische Exklave, und das Baltikum wäre ohne die paar Kilometer Suwalki-Korridor ebenfalls eine Exklave der Nato im Osten: fast vollständig eingeschlossen von Russland, Belarus und Kaliningrad.

Er war von Anfang an ein heikles Projekt, der Eisenbahnkorridor, der Russland vom Osten her über Belarus und Litauen mit der russischen Exklave Kaliningrad verbindet. Zu Zeiten der Sowjetunion war der Transit einfach. Zum Problem wurde er erst nach der Unabhängigkeit Litauens, vor allem nachdem Litauen 1997 seine Ambitionen auf einen Beitritt zu Europäischer Union und Nato öffentlich gemacht hatte.

Moskau wollte aus der Strecke einen militärischen Korridor machen

Für den Transport russischer Fracht nach Kaliningrad hatten beide Länder schon im Jahr 1993 ein erstes bilaterales Abkommen unterzeichnet. Im Vorfeld der EU-Verhandlungen Litauens, die 2000 begannen, lancierte die russische Diplomatie dann allerdings einen Plan, der in Litauen als versuchte Sabotage der Annäherung Litauens an EU und Nato verstanden wurde: Moskau drängte darauf, aus der Eisenbahnstrecke einen militärischen Korridor zu machen, ein quasi exterritoriales Gebiet also, auf dem Russland Soldaten und Rüstungsgüter nach Kaliningrad hätte transportieren können.

Neben der Stilllegung des maroden, noch aus Sowjetzeiten stammenden Kernkraftwerks Ignalina war damals die Frage des russischen Transits nach Kaliningrad der wichtigste Punkt in den Verhandlungen zwischen Vilnius und Brüssel. Es half den Litauern, dass Russland in jenen Jahren noch sehr mit sich selbst und Wladimir Putin mit der Konsolidierung seiner Macht beschäftigt war: Am Ende gab Moskau nach, Litauen und Russland einigten sich auf Transitregeln, die am 1. Juli 2003 in Kraft traten. Das Abkommen sah vereinfachte Visumsregeln für russische Transitpassagiere vor, gleichzeitig verpflichtete sich Russland, die litauischen Behörden über Art und Umfang der Fracht zu informieren. Litauen behielt also seine Hoheitsrechte. Im Jahr darauf trat das Land der EU und der Nato bei.

Die Sorge, Russland könne die Transitfrage für Provokationen nutzen, ist in Litauen all die Jahre nie gewichen. Alles, was rund um die Gleise passiert, wird genau registriert, wenn zum Beispiel Päckchen aus den russischen Zügen geworfen werden, meist Schmuggelware. Der öffentlich-rechtliche Sender LTR berichtete von Vorfällen wie jenem im August 2014, kurz nach der russischen Annexion der Krim, als ein russischer Zug plötzlich zum Stehen kam, gerade als er den Damm eines Wasserkraftwerkes bei der Stadt Kaunas passierte. Oder im Jahr darauf, als litauische Einsatzkräfte einen russischen Zug umstellten, der verdächtig viele junge Männer im Wehrdienstalter an Bord hatte, gerade als die russischen Streitkräfte in verschiedenen Teilen Russlands kurze Manöver abhielten.

Litauen betont, von einer Blockade könne keine Rede sein

Litauischen Angaben zufolge hatten zuletzt etwa 100 Züge im Monat die Transitstrecke genutzt. Die Züge fahren noch. Auch wenn Politiker in Moskau und Kaliningrad nun von einer "Blockade" Kaliningrads sprechen und den Litauern Vergeltungsmaßnahmen angekündigt haben. Litauen betont, von einer Blockade könne keine Rede sein: Sämtliche Passagiere und auch ein Großteil der Güter dürften weiter passieren. Zurückgewiesen würden seit vergangener Woche einzig der Transport von Stahl und anderen Metallen im Einklang mit den EU-Sanktionen gegen Russland.

Es gab innerhalb Litauens Kritik an der Regierung, die die Menschen viel zu spät über die Umsetzung der EU-Sanktionen an der Transitstrecke informiert habe, sodass die heftigen russischen Reaktionen und Vergeltungsdrohungen viele erst einmal kalt erwischten. Gleichzeitig glauben nicht wenige an eine geplante Eskalation durch Russlands Einschüchterungsrhetorik. Die russischen Vorwürfe seien "unaufrichtig" und lediglich ein Vorwand, sagt etwa der ehemalige Außenminister Litauens Linas Linkevičius: "Wenn sie Forderungen stellen wollen, dann sollen sie sich an Brüssel wenden, nicht an Vilnius."

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