Süddeutsche Zeitung

Fünf Millionen Straftaten:Wie Corona die Kriminalität verändert

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Weniger Einbrüche, mehr Missbrauchsfälle: Politiker und Behörden sehen mit Sorge, dass vor allem die Schwächsten der Gesellschaft häufiger zum Opfer werden.

Von Markus Balser, Berlin

Wie sich die Kriminalität verändert, wenn Menschen kaum noch unterwegs sind, sich selten in großen Menschenmengen aufhalten und viel Zeit zu Hause im Netz verbringen? Taschendiebe und Einbrecher hatten es zuletzt schwer, wie aus der Polizeilichen Kriminalstatistik hervorgeht, die Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) am Dienstag in Berlin vorstellte. Gut fünf Millionen Straftaten, fünf Prozent weniger als im Jahr zuvor, registrierten die Behörden 2021 - der niedrigste Stand seit 20 Jahren.

Gelegenheit macht Diebe, so lautet das Sprichwort. Doch die Gelegenheit war in Zeiten der Pandemie offenbar äußerst rar. "Wir mussten ja die Leute zeitweise leider zwingen, zu Hause zu bleiben", sagt Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU). Die Folge der vielen Zeit in den eigenen vier Wänden: Die Zahl der angezeigten Wohnungseinbrüche ging im vergangenen Jahr um 28 Prozent auf rund 54 000 Fälle zurück. Die Zahl registrierter Diebstähle sank um rund zwölf Prozent, Gewaltdelikte gingen um sieben Prozent zurück. "Wir sind ein sicheres Land und ein starker Rechtsstaat", sagte Faeser in der Bundespressekonferenz.

Doch das gilt nicht für alle. Vor allem in einem Bereich machen steigende Zahlen den Behörden enorme Sorgen und zeigen, dass ausgerechnet die Schwächsten in der Gesellschaft immer häufiger zum Opfer werden. Um mehr als 100 Prozent gestiegen sind Fälle von Verbreitung, Erwerb, Besitz oder Herstellung sogenannter kinderpornografischer Schriften. Fast 40 000 Straftaten haben die Behörden im vergangenen Jahr registriert. Im Jahr zuvor waren es noch 19 000. Auch die Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern sind der Statistik zufolge um gut sechs Prozent auf 15 500 Fälle gestiegen.

Faeser sprach angesichts der hohen Zahlen von einem "entsetzlichen Ausmaß" beim Missbrauch von Kindern. Die Ermittler seien mit großen Datenmengen konfrontiert. Die meisten Daten für die Ermittlungen stammen von der US-amerikanischen Nichtregierungsorganisation National Center for Missing and Exploited Children. Sie arbeitet mit IT-Konzernen wie Google und Facebook zusammen, die ihre Daten nach Missbrauchsabbildungen scannen. Das NCMEC leitet das Material bei Verdacht mit der zugehörigen IP-Adresse an die Behörden des jeweiligen Landes weiter. In Deutschland erhält sie das BKA. Die Zusammenarbeit habe den Ermittlungsdruck deutlich erhöht, heißt es aus der Behörde. Deshalb und wegen weiterer Erkenntnisse aus den Verfahren in Lügde, Bergisch Gladbach und Münster seien die Fallzahlen so deutlich gestiegen.

Die deutschen Ermittler kommen beim Bearbeiten der vielen Hinweise kaum hinterher

Und der Anstieg dürfte weitergehen. Denn die deutschen Ermittler kommen beim Bearbeiten der vielen Hinweise derzeit kaum hinterher. Laut BKA-Präsident Holger Münch gab es 2021 mehr als 62 000 Hinweise auf strafrechtlich relevante Fälle durch das NCMEC. Nicht alle hätten jedoch bereits Eingang in die Statistik gefunden, weil dort nur die bearbeiteten Fälle gezählt würden. Für das aktuelle Jahr sei erneut ein Anstieg der Hinweise zu verzeichnen. Das Bundeskriminalamt rechne deshalb auch mit einem erneuten Anstieg der Fälle in der kommenden Statistik. Das Innenministerium kündigte am Dienstag an, dem BKA mehr Mittel bereitzustellen, um Hinweisen schnell nachzugehen und Täter zu ermitteln.

Dass immer mehr Kriminalität ins Internet abwandert, erwarten Deutschlands Kriminalbehörden auch nach dem Ende der Pandemie. Denn das Bundeskriminalamt sieht in den Veränderungen der Statistik nicht nur Corona-Effekte, sondern einen langfristigen Trend, den die Pandemie nur verstärkt habe. Die Eigentumskriminalität gehe schon seit zehn Jahren zurück - insgesamt um fast 40 Prozent, sagt BKA-Chef Peter Münch. Dagegen habe sich die Cyberkriminalität allein in den vergangenen fünf Jahren verdoppelt. "Wir beobachten einen strukturellen Wandel", sagte Münch. Kriminelle versuchten, der Entdeckung durch Aktivitäten im Netz zu entgehen.

Dass auch das schwieriger wird, machte ein aktueller Fahndungserfolg vom Dienstag klar. Deutsche Ermittler haben nach eigenen Angaben den umsatzstärksten illegalen Darknet-Marktplatz "Hydra Market" abgeschaltet. Laut BKA wurde dessen Serverinfrastruktur beschlagnahmt - das Ende der Plattform. "Hydra Market" war eine mindestens seit 2015 erreichbare russischsprachige Plattform mit etwa 17 Millionen Kunden. Über den Darknet-Anbieter sollen allein 2020 Umsätze über 1,23 Milliarden Euro geflossen sein. Sie diente laut BKA vor allem dem Handel mit Drogen sowie mit gestohlenen Daten und gefälschten Dokumenten.

Gesunken ist im Pandemiejahr auch die Zahl der erfassten Rauschgiftdelikte. Sie sank 2021 leicht, um 1,3 Prozent auf 361 000 Fälle. Die Entwicklung war allerdings je nach Droge unterschiedlich. Bei Heroin, Kokain und Crack sowie bei LSD stellten die Polizeibehörden erneut einen Zuwachs fest, während die Zahl der polizeibekannten Fälle, in denen es um Cannabis und Amphetamine ging, abnahm.

Wie gefährlich die Deutschen leben, hängt der Statistik zufolge sehr vom Wohnort ab. Denn im Vergleich der 16 Bundesländer gibt es große Unterschiede und ein spürbares Nord-Süd-Gefälle. Die Zahl der Straftaten je 100 000 Einwohner ist den Angaben zufolge bundesweit mit 13 160 Taten in Berlin am größten. Die Zahl der registrierten Straftaten lag hier ungefähr dreimal so hoch wie in Bayern, dem im vergangenen Jahr sichersten Bundesland (4138 Straftaten). Auf den Plätzen zwei und drei der sichersten Länder landeten Baden-Württemberg (4380) und Rheinland-Pfalz (5302). Zu den Ländern mit den höchsten Werten gehören neben Berlin die Stadtstaaten Hamburg und Bremen, gefolgt von Sachsen-Anhalt.

Von den gut fünf Millionen Straftaten konnten Ermittler rund drei Millionen Fälle lösen. Die Aufklärungsquote lag damit bei 58,7 Prozent - und so hoch wie lange nicht. Allerdings räumen Strafverfolger ein, dass ihnen dabei der starke Rückgang bei Diebstählen geholfen hat. Denn bei denen tun sich die Behörden generell ziemlich schwer.

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