Süddeutsche Zeitung

Artikel 18:Die Ultima Ratio der wehrhaften Demokratie

Lesezeit: 3 min

Politische Fußfesseln!? Wie sich die Schöpfer des Grundgesetzes die Bekämpfung von Neonazis vorgestellt haben - und warum das nicht funktioniert.

Kolumne von Heribert Prantl

"Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit, die Lehrfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Vereinigungsfreiheit, das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis, das Eigentum oder das Asylrecht zum Kampfe gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung missbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen."

Artikel 18 Grundgesetz

Dieser Artikel war den Müttern und Vätern des Grundgesetzes unendlich wichtig. Viele ihrer Debatten haben sich darum gedreht. Er steht daher ganz weit vorne, gleich nach den Grundrechten. Artikel 18 soll Ausdruck der streitbaren, der wehrhaften Demokratie sein; in diesem Artikel soll sich der Selbstbehauptungswille des Verfassungsstaats spiegeln. "Wir wollen nicht mehr", so sagte es der große Carlo Schmid, es war am 8. September 1948 in der zweiten Sitzung des Parlamentarischen Rats, "dass man sich auf Grundrechte berufen kann, um die Republik zu beseitigen."

Die Schöpfer des Grundgesetzes hatten den Untergang der Weimarer Republik vor Augen und in den Knochen: Eine Demokratie, die dem Missbrauch der Grundrechte untätig zusieht, "verhält sich selbstmörderisch", hieß es in den Grundgesetzberatungen. Und so schuf man diesen Artikel 18, für den es keinerlei Beispiel gab in der Verfassungsgeschichte: Wer Grundrechte missbraucht, der verwirkt diese Grundrechte. Das ist der Inhalt dieses Artikels. Das Bundesverfassungsgericht wurde eingesetzt, um diese Verwirkung und ihr Ausmaß festzustellen.

Der Artikel 18 hat eine reiche Geschichte - und eine dürre Gegenwart

Warum das Bundesverfassungsgericht? Mit dieser Vorschrift, so die Befürchtung, lässt sich auch ein Polizeistaat etablieren - es sollte aber nicht der Artikel, der gegen den Missbrauch von Grundrechten in Stellung gebracht wurde, seinerseits missbraucht werden können. Deswegen erfand man 1949 ein Entscheidungsmonopol des höchsten Gerichts; es hat bei der Grundrechtsverwirkung das erste und letzte Wort, es ist hier zugleich Ermittlungs- und Entscheidungsinstanz, in Durchbrechung der Gewaltenteilung.

Das Grundgesetz wagte sich damit zum Schutz der Verfassung auf neues Terrain. Aber auf diesem Terrain ist in siebzig Jahren nichts gewachsen. Das Übel, das die Verfassung in Artikel 18 den Grundrechtsmissbrauchern androht, wurde bisher noch kein ein einziges Mal verhängt. Und nur vier Mal in siebzig Jahren Bundesrepublik wurde ein einschlägiger Antrag auf Feststellung der Verwirkung von Grundrechten gestellt, jedes Mal von der Bundesregierung, immer gegen Rechtsextremisten; das Verfassungsgericht zog aber nicht mit, es hielt die Extremisten nicht für gefährlich genug, die Anträge daher für unbegründet.

Weil es keine Urteile, weil es keine Fälle gibt, gibt es auch kein praktisches Anschauungsmaterial: Was würde die Verwirkung von Grundrechten im Alltag bedeuten? Wie schaut sie genau aus? Welche Maßregeln kann das Bundesverfassungsgericht erlassen? Darf es dem Missbraucher der Presse- und der Meinungsfreiheit jegliche publizistische Tätigkeit verbieten - analog und digital, also auch im Internet? Und was ist die Sanktion, wenn sich der Missbraucher nicht daran hält? Klar ist nur, dass er, wenn seine Blogs gelöscht und seine Accounts abgeschaltet werden, nicht bei Gericht unter Berufung auf die Meinungsfreiheit dagegen klagen kann - er hat sein "Grundrecht verwirkt". Er kann sich nicht mehr darauf berufen.

Eine Art politische Quarantäne soll also per Artikel 18 über einen gefährlichen Grundrechtsmissbraucher verhängt werden können - das war der Wille der Schöpfer das Grundgesetzes. Die Verfassungsjuristen haben diesen Artikel nun jahrzehntelang beäugt wie ein exotisches Tier; sie haben ihn abgetastet und abgeklopft, sie haben ihm lange theoretische Abhandlungen gewidmet. Einigkeit besteht darüber, dass der Betroffene nicht zum "Outlaw" werden soll. Es soll nicht um eine Entbürgerlichung, sondern um "Entpolitisierung" des Betroffenen gehen. Er soll in seinem Freiheitsradius beschränkt werden - eine Art politische Fußfessel also.

Im Strafrecht dient eine elektronische Fußfessel bekanntlich dazu, Straf- und Gewalttäter unter Kontrolle zu behalten. An die hundert Fußgefesselte werden derzeit von der gemeinsamen Überwachungsstelle der Bundesländer, die in der Justizvollzugsanstalt Weiterstadt untergebracht ist, kontrolliert. Wer sollte gegebenenfalls kontrollieren, dass sich der Grundrechtsmissbraucher an die Verwirkungsentscheidung des Verfassungsgerichts hält?

Schon der Aufwand, der für ein Verwirkungsverfahren in Karlsruhe zu betreiben ist, macht klar, dass es hier nicht um 08/15-Hetzer gehen kann. Es kann auch nicht um Straftäter gehen, auch nicht um Mörder und ihre Helfer wie im Fall Lübcke; für die ist das Strafrecht da, das ist schneller und effektiver.

Ein spektakulärer Fall, der gerade fünfzig Jahre zurückliegt, zeigt in die Richtung, die wohl den Schöpfern des Grundgesetzes vorschwebte: Der Antrag der Bundesregierung richtete sich gegen Gerhard Frey, der fast vierzig Jahre lang der Vorsitzende der von ihm gegründeten Deutschen Volksunion (DVU) war. 1969 beantragte die Bundesregierung, gegenüber Frey als Verleger, Chefredakteur, Herausgeber und Gesellschafter der Nationalzeitung die Grundrechtsverwirkung auszusprechen. Ziel der Anträge war: Auflösung der Verlags-GmbH, Ausspruch der Verwirkung der Grundrechte der freien Meinungsäußerung, insbesondere der Pressefreiheit; Aberkennung des Wahlrechts, der Wählbarkeit und Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter für die Dauer der Verwirkung. Das Gericht behandelte den Antrag zögerlich, es brauchte fünf Jahre, um den angeblich nicht hinreichend begründeten Antrag abzulehnen. Man wollte wohl keinen Märtyrer schaffen.

Und so fristet die Grundrechtsverwirkung ein Schattendasein in der Verfassungswirklichkeit - zu Recht. Die Substanz freiheitlicher Demokratie lässt sich prinzipiell nicht durch die Verkürzung von Freiheit sichern. Sollte man Artikel 18 also streichen? Nein. Er hat Geschichte und Symbolkraft, steht für den Behauptungswillen der Demokratie. Und es ist nicht auszuschließen, dass er bei weiter grassierendem Extremismus doch noch vitalisiert werden muss. Artikel 18 mag das Universalinstrument nicht sein, das sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes gewünscht haben; das gibt es ohnehin nicht. Aber der Artikel 18 gehört trotzdem zum Arsenal der wehrhaften Demokratie.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4503782
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 29.06.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.