Süddeutsche Zeitung

Flüchtlingsdrama vor Kalabrien:Mehr als 60 Menschen sterben - und was tut Europa?

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In Rom und Brüssel zeigt man sich bestürzt. Aber eine gesamteuropäische Seenotrettung im Mittelmeer wird es wohl weiterhin nicht geben.

Von Josef Kelnberger und Oliver Meiler, Rom/Brüssel

Noch immer weiß man nicht, wieviele Opfer das Flüchtlingsdramas in Kalabrien gefordert hat, und vielleicht wird man das auch nie wissen. Doch die politische Polemik rund um den Umgang mit der Migrationsfrage ist bereits im Gang. "Dov'è l'Europa?", titelt die süditalienische Zeitung Il Mattino über ihre ganze erste Seite. "Wo ist Europa?"

Mindestens 62 Menschen starben beim Versuch, nach Europa zu kommen, unter ihnen 14 Kinder. Mehrere Dutzend werden noch immer vermisst. Das Fischerboot war am Sonntag bei rauer See nur wenige hundert Meter vor der Küste von Steccato di Cutro, einem Badeort am Ionischen Meer, an Felsen zerbrochen.

Schlepper stießen die schwächsten Passagiere über Bord

Abgelegt hatte das Schiff im türkischen Izmir, so ist nun auch dieser Fluchtweg wieder ein zentrales Thema in den Debatten: Auf der Route an Griechenland vorbei verlangen die Schlepper für die Überfahrt nach Italien zwischen 4000 und 8000 Dollar. Einige Überlebende berichteten, die Schlepper hätten in der Nacht Lichter gesehen und gedacht, es handelte sich um die Scheinwerfer der Polizei. Um schneller wegzukommen, hätten sie die schwächsten Passagiere von Bord des überfüllten Boots gestoßen.

Es laufen nun Ermittlungen der Justiz, auch die Reaktionsschnelle der Küstenwache und des Innenministeriums soll untersucht werden. Offenbar hatte man schon am Samstagabend von den Problemen des Boots gewusst. Die Behörden aber beteuern, das Meer sei viel zu bewegt gewesen für eine Rettungsaktion. Die linke italienische Opposition wirft der Rechtsregierung von Premier Giorgia Meloni vor, sie wende ihre ganze Energie dazu auf, die Seenotretter zu kriminalisieren, anstatt sich um die Schlepper zu kümmern. Meloni kontert, die Linke instrumentalisiere das Drama.

Fast einhellig finden aber alle, die EU zögere als Ganzes schon viel zu lange mit einem gemeinsamen, umfassenden Ansatz in der Migrationsfrage. In diesem Zusammenhang fällt immer wieder die oft vertagte Reform des Dubliner Abkommens, wonach Flüchtlinge ihren Asylantrag immer im Land ihrer Erstankunft in Europa stellen müssen - also in den meisten Fällen in Griechenland, Spanien und eben Italien. Kritisiert wird auch, dass sich bis heute kein fester und automatischer Modus finden ließ, nach dem Menschen, die im Süden ankommen, auf andere Länder der EU verteilt werden.

Mauern und Zäune - viel mehr fällt den EU-Ländern im Moment nicht ein

In einem Punkt aber denkt Meloni, sie habe die Europäer auf ihre Seite gebracht. Jedenfalls feierte sie das neulich in Brüssel wie einen persönlichen Triumph: Sie sage ja schon lange, man müsse die Migranten davon abhalten abzulegen.

Tatsache ist allerdings, dass es Melonis Einfluss gar nicht bedurfte: Eine große Zahl von EU-Staaten setzt wegen der stark gestiegenen Zahl von Asylanträgen immer energischer auf die Abwehr von Flüchtlingen. Beim EU-Sondergipfel im Februar drangen sie, angeführt von Österreich, darauf, die EU solle aus ihrem Haushalt Mauern, Zäune und andere Grenzanlagen finanzieren - einen Zaun wie jenen in Griechenland, der mit ursächlich sein dürfte für das Drama vor Kalabrien. Weil die griechische Regierung verhindert, dass aus der Türkei Flüchtlinge ins Land kommen, nahm das Schiff aus Izmir wohl den Weg nach Italien.

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen teilte via Twitter mit, sie sei "tief betrübt" von dem Unglück. Sie verwies darauf, die EU müsse nun vorankommen mit ihrem Aktionsplan für die Zentrale Mittelmeerroute. Diese Route beschreibt eigentlich den Seeweg von Nordafrika nach Italien und sieht vor, durch Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitländern den Menschenschmugglern das Handwerk zu legen. Dadurch sollen Migranten abgehalten werden, die Reise übers Meer anzutreten. Teil der "Zusammenarbeit" ist es auch, wirtschaftlichen Druck auf die Länder auszuüben. Für das Unglück vor Kalabrien ist nun allerdings die Türkei Ansprechpartner, ein bekanntermaßen schwieriger Partner.

Sprecherinnen der Kommission wiesen am Montag Kritik aus Italien zurück. Das Land werde beim Umgang mit Flüchtlingen in erheblichem Umfang aus EU-Mitteln unterstützt. Die Zahl von 255 Flüchtlingen, die andere Länder - Deutschland und Frankreich - vergangenes Jahr auf freiwilliger Basis aus Italien übernommen hätten, wurde als Beleg für europäische Solidarität genannt. Und was die Seenotrettung ("eine humanitäre Pflicht") betrifft: Der Aktionsplan sehe vor, dass sich alle Beteiligten besser koordinieren, aber letztlich sei Seenotrettung Aufgabe der Mitgliedsländer.

Für eine staatliche europäische Seenotrettungsmission im Mittelmeer gibt es auch nach dem Drama vor Kalabrien absehbar keine Mehrheit. Die Arbeit von privaten Rettungsschiffen hat die italienische Regierung zuletzt stark eingeschränkt. Auf die Frage, ob dies gegen europäisches Recht verstoße, hieß es am Montag in Brüssel: Man sei im engen Kontakt mit der italienischen Regierung.

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