Süddeutsche Zeitung

Nahost-Krieg:Netanjahu widersetzt sich den USA

Lesezeit: 3 min

Die Regierung von Joe Biden mahnt angesichts der zivilen Opfer zu Mäßigung, doch Israels Premierminister will davon nichts wissen. Er sagt, es gehe um den "absoluten Sieg" gegen die Hamas.

Von Peter Münch, Tel Aviv

Mit massiver Kraft hat Israel den Krieg um Gaza wieder aufgenommen und ausgeweitet. Beiseitegeschoben werden dabei fürs Erste alle Warnungen - vor der hohen Zahl ziviler Opfer, vor einer humanitären Katastrophe und vor der Gefährdung der 137 Geiseln, die immer noch von der Hamas und deren Handlangern festgehalten werden. Allen Aufrufen aus Washington, die Art der Kriegsführung zu ändern, begegnet Premierminister Benjamin Netanjahu mit starken Worten: "Am Ende ist dies unser Krieg und wir treffen die Entscheidungen", sagte er am Wochenende in Tel Aviv. Der Kampf gegen die Hamas werde bis zum "absoluten Sieg" fortgesetzt.

Am Boden hat das israelische Militär seine Einsätze nun auf den gesamten Gazastreifen ausgeweitet, wie Armeesprecher Daniel Hagari am Sonntagabend erklärte. Mehrere israelische Medien meldeten, Israels Armee sei mit Bodentruppen in den Süden des Gazastreifens vorgerückt. Vorausgegangen waren heftige Luftangriffe auf die Stadt Chan Yunis. Vermutet wird, dass sich dort Hamas-Chef Jahia Sinwar versteckt. Zugleich drängt sich im südlichen Gazastreifen aber auch fast die gesamte Bevölkerung von rund zwei Millionen Menschen, nachdem die Bewohner des Nordens in die Flucht getrieben wurden.

Angesichts der absehbaren Gefahren für die Zivilbevölkerung werden die Warnrufe aus Washington lauter. Nachdem bereits Außenminister Antony Blinken vorige Woche in Israel auf die Einhaltung des humanitären Völkerrechts gedrungen hatte, stimmten nun Vizepräsidentin Kamala Harris und Verteidigungsminister Lloyd Austin ein. "Zu viele unschuldige Palästinenser sind getötet worden", sagte Harris. Die Bilder und Videos aus dem Gazastreifen seien "verheerend". Austin erklärte, der Schutz von Zivilisten sei "zugleich eine moralische Verantwortung und ein strategisches Gebot".

Netanjahu zeigt sich davon unbeeindruckt - und setzt offenkundig darauf, bei der eigenen Bevölkerung Punkte zu sammeln, indem er ein Bollwerk gegenüber äußerem Druck errichtet. Standhalten will er dabei nicht nur den Aufrufen zur Mäßigung bei der Kriegsführung. Sein Widerstand richtet sich auch gegen Pläne der US-Regierung für eine Nachkriegsordnung, die nach Vertreibung der Hamas eine Rückkehr der Palästinensischen Autonomiebehörde von Präsident Mahmud Abbas in den Gazastreifen und Verhandlungen mit dem Ziel einer Zweistaatenlösung vorsehen.

Beides will Netanjahu verhindern, indem er die Autonomiebehörde verbal attackiert. "Sie bekämpft nicht den Terror, sondern finanziert ihn", sagte er. Nichts würde sich ändern in Gaza, wenn Abbas und seine Autonomiebehörde dort die Verantwortung übernähmen. Vermieden hat es Netanjahu bislang, eigene Vorschläge für die Zeit nach dem Krieg vorzulegen.

Vage und damit offen für Interpretationen hat er nur eine künftige "Sicherheitskontrolle" Israels über das Palästinensergebiet angekündigt. Neu ins Spiel gebracht wurde am Wochenende noch die Idee einer "Pufferzone", die Israel vor Terrorüberfällen wie am 7. Oktober schützen soll. Diese "Sicherheitshülle" soll innerhalb des Gazastreifens liegen, der in der Länge nur 40 Kilometer misst und an der breitesten Stelle zwölf. Die USA haben jede Grenzveränderung und jede Reduzierung der Fläche des palästinensischen Gebiets bereits strikt abgelehnt.

Die Verhandlungen über den Austausch weiterer Geiseln sind in eine Sackgasse geraten

In eine Sackgasse geraten sind die Verhandlungen über eine neue Feuerpause und einen weiteren Austausch von israelischen Geiseln gegen palästinensische Häftlinge. Mossad-Chef David Barnea ordnete am Wochenende die Abreise des israelischen Verhandlungsteams aus Katar an. Zugleich erklärte Hamas-Vize Saleh al-Aruri, dass es erst bei einem Kriegsende einen weiteren Austausch mit Israel geben werde. "Diese Entscheidung ist endgültig, wir werden keine Kompromisse eingehen", sagte er.

Verzweifelte Ängste löst dies bei den Angehörigen der 137 israelischen Geiseln aus, unter denen auch noch 15 Frauen und zwei Kinder sein sollen. Zur Unterstützung ihres Kampfs um die Freilassung aller Geiseln waren am Samstagabend in Tel Aviv wieder Tausende auf die Straße gegangen. Solidaritätsveranstaltungen gab es zudem in vielen anderen Städten.

Auf dem Platz vor dem Tel Aviver Kunstmuseum sprachen auch einige jener Geiseln, die in der vorigen Woche freigekommen waren. Sie forderten von der israelischen Regierung eindringlich, die Zurückgebliebenen nicht dem Kriegskalkül zu opfern. Das "Familien-Forum", in dem sich die Angehörigen zusammengeschlossen haben, fordert ein Treffen mit dem Kriegskabinett und Antworten darauf, wie die Regierung nun alle Entführten heimholen will. "Jeder Tag", so heißt es im Aufruf, "könnte ihr letzter sein."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.6313422
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.