Süddeutsche Zeitung

Ende des INF-Vertrags:Der Grundpfeiler stürzt

Lesezeit: 3 min

Von Matthias Kolb, Brüssel, und Paul-Anton Krüger, Brüssel/München

Mike Pompeo wählt das Lieblingsmedium seines Chefs Donald Trump. Per Tweet bestätigt der US-Außenminister, gerade auf Asienreise, das Ende des seit 1988 geltenden INF-Vertrages zum Verbot von landgestützten Mittelstreckenwaffen. Die USA hätten dem Partner Russland am 2. Februar eine sechsmonatige Frist gesetzt, um sich wieder an die Regeln zu halten, schreibt Pompeo. "Die Vereinigten Staaten werden nicht Verträgen angehören, wenn andere diese verletzen."

Wenig später verschickt Pompeos Ministerium eine längere Mitteilung, in der ebenfalls Russland die "alleinige Schuld" am Scheitern des Abkommens gegeben wird. "Spätestens seit Mitte der 2000er Jahre" habe Moskau Marschflugkörper des Typs 9M729 "entwickelt, produziert und getestet" und diese mittlerweile auch bei mehreren Bataillonen der Armee eingeführt und stationiert. 2013 hätten die USA Russland erstmals mit Vorwürfen konfrontiert, aber das Land sei nicht daran interessiert gewesen, seine Verpflichtungen einzuhalten. Explizit würdigt Pompeo "die unerschütterliche Kooperation und Entschlossenheit der Nato-Partner".

Denn glücklich waren längst nicht alle in Europa mit der Entscheidung der Amerikaner, das Abkommen zu kündigen. Der 1987 von Ronald Reagan und Michail Gorbatschow unterzeichnete INF-Vertrag galt als ein zentraler Grundpfeiler für Europas Sicherheitsarchitektur. Er verbot Russland und den USA den Besitz landgestützter Raketen und Marschflugkörper mit Reichweiten zwischen 500 und 5500 Kilometern, die Ziele in Europa binnen weniger Minuten hätten treffen können.

So ist es ein Europäer, Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der an diesem historischen Tag die ausführlichste Erklärung abgibt. "Wir wollen keinen neuen Rüstungswettlauf", sagt der Norweger, als er zur Mittagszeit in Brüssel ans Mikrofon tritt, eine Sorge, die vor allem die Deutschen umtreibt - man fühlt sich erinnert an die Nachrüstungsdebatte der Siebzigerjahre und den Nato-Doppelbeschluss, die damals die Gesellschaft spalteten. Stoltenberg betont nochmals, dass alle Nato-Mitglieder die Entscheidung der USA "völlig unterstützen", den INF-Vertrag zu verlassen. Das bedeutet auch: Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Kanada und die anderen 24 Länder sehen den Bruch der Regeln durch Moskau als erwiesen an.

Im gläsernen Hauptquartier ist man stolz darauf, dass die Allianz zusammengeblieben ist. Zwar hatten die Amerikaner die Verbündeten schon im Sommer 2017 vorgewarnt. Doch wurden die Europäer kalt erwischt, als Präsident Trump vergangenen Oktober überraschend nach einem Wahlkampfauftritt in Nevada den Rückzug aus dem Abkommen aufkündigte.

Es folgte hektische Diplomatie. Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) flog nach Moskau, doch mit der Auffassung, dass "nur Russland den Vertrag retten kann", ließ ihn seine Kollege Sergej Lawrow auflaufen. Hatte Moskau lange die Existenz des fraglichen Marschflugkörpers 9M729 abgestritten, beharrt Russland bis heute darauf, dass das in der Nato als SSC-8 bekannte Geschoss mit dem INF konform ist. Nur so ist das Stationierungsmoratorium zu verstehen, das Lawrows Vize Sergej Riabkow am Donnerstagabend ins Spiel brachte. Die Nato aber geht davon aus, dass der nuklearwaffentaugliche Flugkörper eine Reichweite von mehr als 2000 Kilometern besitzt - und tatsächlich längst stationiert ist. "Keinerlei Glaubwürdigkeit" maß Stoltenberg der Offerte zu.

Für die USA war bei dem Rückzug freilich nicht allein Russlands Vertragsverstoß ausschlaggebend, noch hatte die Regierung in Washington in erster Linie die europäische Sicherheitsarchitektur im Blick. Die Militärstrategen blicken vor allem auf China, das schon unter Obama als der künftig entscheidende strategische Konkurrent gesehen wird. Peking aber hat ein umfangreiches Arsenal von mehr als 2000 Raketen im Reichweitenbereich des INF aufgebaut. Sie können Taiwan, Japan, Südkorea, Indien und den US-Stützpunkt Guam im Pazifik treffen und bei einem Konflikt über chinesische Territorialansprüche im Südchinesischen Meer die US-Truppen in der Region herausfordern.

Hier sieht sich die Trump-Regierung im Hintertreffen. Hinzu kommt, dass Trumps Sicherheitsberater John Bolton ein erklärter Gegner jeglicher Rüstungskontrolle ist. Er sieht in solchen Vereinbarungen nur Versuche anderer Länder, den überlegenen militärischen Fähigkeiten der USA Fesseln anzulegen. China hat seinerseits entschieden jedes Ansinnen zurückgewiesen, sich in bilaterale Verträge zwischen den USA und Russland einbinden zu lassen - eine Idee, für die Moskau sich durchaus offen gezeigt hatte. Für neue bodengestützte Raketen, die das Pentagon noch in diesem Sommer testen will, gibt es denn auch keine Pläne für eine Stationierung in Europa - sie sind, wenn der Kongress die Entwicklung freigeben sollte, für Asien gedacht.

Für Europa stellt sich vielmehr Frage, was Russland eigentlich erreichen will mit dem neuen landgestützten Marschflugkörper und anderen neuen Mittelstreckenwaffen, die INF-konform auf U-Booten und Schiffen stationiert sind. Die USA haben seit Langem in Europa nur noch Atomwaffen Typ B 61 stationiert, die im Zuge der nuklearen Teilhabe in der Nato etwa von deutschen Kampfjets ins Ziel getragen werden müssten. Diese Bomben durchlaufen zwar derzeit ein Modernisierungsprogramm, doch hat die Nato grundlegend am nuklearen Kräfteverhältnis in Europa nichts geändert. Bislang will die Allianz nur mit rein defensiven Maßnahmen reagieren. Doch Polen und den baltischen Staaten, die sich anders als Deutschland direkt von Russland bedroht sehen, könnte das womöglich bald nicht mehr reichen.

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Quelle:
SZ vom 03.08.2019
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