Süddeutsche Zeitung

Holocaust-Gedenktag:Leben hinter der Maske

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Beim Holocaust-Gedenktag erinnert der Bundestag diesmal an das Schicksal Homo- oder Transsexueller in der NS-Zeit. Auch nach 1945 mussten sie ihre Identität verbergen.

Von Constanze von Bullion, Berlin

Es sind Geschichten vom Leben im Versteck und davon, wie man ihm entrinnt. Klaus Schirdewahn zum Beispiel sollte alles Mögliche sein, nur eben nicht einer, der Männer liebt. Er hat seine Identität verborgen, und der Staat sorgte dafür, dass das lange so blieb. Aber auch Rozette Kats kennt dieses innere Gefängnis, aus dem sie erst spät entkommen konnte. Sie ist Jüdin, aber merken sollte das niemand. "Dieses Doppelleben machte mich krank", sagt sie.

Freitag im Plenum des Deutschen Bundestags, 78 Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz ist das Parlament zusammengetreten, um Zeitzeugen zuzuhören. Der Bundespräsident ist da, die Spitzen der Verfassungsorgane, und auf den voll besetzten Tribünen sitzen neben einem Überlebenden aus der Ukraine auch Menschen aus Afghanistan und Uganda. Sie sind Vertreter der queeren Community ihrer Länder und eingeladen, weil der Bundestag am Internationalen Holocaust-Gedenktag erstmals Menschen in den Blick nimmt, die wegen ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität verfolgt wurden - manche bis in die Gegenwart.

Zur Vergasung geschickt mit dem ärztlichen Vermerk, eine "sehr aktive 'kesse' Lesbierin" zu sein

Zunächst aber hat Bundestagspräsidentin Bärbel Bas das Wort bei dieser Gedenkstunde. "Sie standen auf einer der untersten Stufen der sogenannten Lagerhierarchie und waren der allgegenwärtigen Gewalt ungeschützt ausgesetzt", sagt sie. Gemeint sind Tausende, überwiegend männliche Homosexuelle, die im Nationalsozialismus in Konzentrationslager deportiert wurden. "Viele wurden für medizinische Experimente missbraucht", sagt Bas. "Die meisten kamen schon nach kurzer Zeit um oder wurden ermordet." Auch Transsexuelle und lesbische Frauen wurden verfolgt, auch wenn es dafür keine strafrechtliche Grundlage gab. Ihre Geschichten gehörten nie zum offiziellen Kanon des Holocaust-Gedenkens. Sie blieben unerzählt.

Im Bundestag geben am Freitag deshalb andere den Ermordeten eine Stimme. Die Schauspielerin Maren Kroymann trägt einen Brief an Mary Pünjer vor. Die Hamburger Kaufmannstocher, geboren 1904, war verheiratet, wurde verfolgt wegen "Zärtlichkeiten" mit Frauen, mehrfach verurteilt und in die Heilanstalt Bernburg zur Vergasung überwiesen mit dem ärztlichen Vermerk, sie sei eine "sehr aktive 'kesse' Lesbierin". Mary Pünjer starb 1942, angeblich im KZ Ravensbrück.

Aber auch viele, die überlebt hatten, wurden nicht befreit. Paragraf 175 des Strafgesetzbuches belegte sexuelle Handlungen unter Männern auch nach 1945 noch mit Gefängnis. Die Rechtsnorm aus der Kaiserzeit überlebte bis in die Bundesrepublik des Jahres 1969, in der Fassung der Nationalsozialisten. Noch bis 1994 blieb Sex zwischen Männern strafbar, die Rehabilitation Verurteilter wurde Jahrzehnte verweigert, ein beharrlich ausgesessenes Unrecht.

Und es gab da noch eine andere Gefangenschaft. Im Bundestag kommt die Niederländerin Rozette Kats darauf zu sprechen. Sie ist 80 Jahre alt und eine nachdenkliche Dame. Ihre Eltern wurden in Auschwitz ermordet, die Tochter hatten sie vor der Deportation Pflegeeltern übergeben. Rozette Kats war sechs Jahre alt, als sie von ihrem Pflegevater erfuhr, dass ihr Name nicht "Rita" war. Dass ihre Eltern jüdisch waren, tot. "Du musst keine Angst haben. Wir werden für dich sorgen, bis du groß bist", habe der Pflegevater ihr versichert. "Aber ich hatte Angst", sagt sie im Bundestag.

"Es macht Menschen krank, wenn sie sich verstecken müssen."

Damals hat Rozette Kats sich zugelegt, was sie ihre "nicht-jüdische Maske" nennt - die Überzeugung, "wenn ich mich nur gut anpasse, wird mir nichts geschehen". Es begann ein quälendes Doppelleben, und erst mit 50 Jahren fand sie zu ihrem "Coming-out", so nennt sie das. "Was ich als kleines Kind lernen musste, das mussten leider auch viele sexuelle Minderheiten lernen", sagt Rozette Kats noch. "Es macht Menschen krank, wenn sie sich verstecken und verleugnen müssen."

Es ist dann der heute 75-jährige Klaus Schirdewahn, der im Bundestag von diesem unheilvollen Verstecken berichtet. "Bis vor fünf Jahren galt ich als vorbestraft", sagt er. Schirdewahn war 17 und Sohn aus christlicher Familie, als ein Gericht in Rheinland-Pfalz ihn 1964 für schuldig befand, gegen Paragraf 175 verstoßen zu haben. Eine Freiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt unter der Bedingung, dass er sich einer Therapie gegen Homosexualität unterziehen würde. Seine spätere Ehefrau begleitete ihn zum Therapeuten, "wir haben gedacht, wir schaffen das". Was folgte, waren Jahrzehnte der Depressionen. "Krank in der Seele" sei er geworden beim Versuch, die eigene Identität abzustreifen. Und ein Gutteil seines Lebens war verstrichen, als er "Ich bin ich" sagen konnte. "Für heterosexuelle Menschen ist das selbstverständlich. Für mich war es überwältigend." Da erheben sich die Abgeordneten im Bundestag und applaudieren. Nicht alle, aber die allermeisten.

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