Süddeutsche Zeitung

Krieg in Nahost:In Gaza droht eine Hungersnot

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Für die Menschen im Gazastreifen wird die Lage immer schlimmer. Es kommt nicht genug Hilfe an. Wer ist schuld daran?

Von Bernd Dörries, Kairo

Als am Wochenende ein Laster mit Hilfsgütern die Siedlung Netzarim im Norden des Gazastreifens erreichte, rannten ihm Tausende, ja vielleicht Zehntausende Menschen hinterher, stiegen auf die Ladefläche, stritten sich um das Wenige, was zu holen war. Die Palästinenser in Gaza seien auf der Suche nach "allem, was sie zum Überleben bekommen können", sagte Martin Griffiths, der oberste Nothilfekoordinator der Vereinten Nationen.

Viel ist es nicht, was die Menschen vor allem im Norden des Gazastreifens finden, wo die israelische Belagerung am härtesten ist. Viel mehr als eine Dose Bohnen bekommt eine Familie nicht am Tag. Selbst die, die noch Geld haben, können sich nichts dafür kaufen. Seit dem 1. Januar hat nur etwa ein Viertel von 21 geplanten Konvois mit Lebensmitteln, Medikamenten und anderen lebenswichtigen Gütern den Norden des Gazastreifens erreicht. Den anderen sei von Israel keine Genehmigung erteilt worden, sagte ein UN-Sprecher.

"Ich habe so etwas noch nie gesehen", sagt der Chefökonom des Welternährungsprogramms

Und auch im Süden des Gazastreifens ist die humanitäre Lage nicht viel besser. Vor dem Krieg konnten etwa 500 Lkws pro Tag in den Gazastreifen fahren, derzeit sind es nur noch etwa 100 täglich. Die Landwirtschaft wurde fast völlig eingestellt, was die Versorgungslücke noch vergrößert. Hilfsorganisationen warnen vor einer Hungersnot, Experten sprechen davon, dass es in den vergangenen zwei Jahrzehnten keine Ernährungskrise gegeben habe, die so schnell und heftig eine ganze Bevölkerung betroffen habe.

Das Welternährungsprogramm der UN klassifiziert die Ernährungssituation auf der Welt in fünf Stufen: In Phase eins geht es allen gut, in Phase fünf herrscht Hungersnot - sie betrifft in Gaza eine halbe Million Menschen, also knapp ein Viertel der Bevölkerung des schmalen Landstriches. "Für mich ist dies beispiellos, erstens wegen des Ausmaßes, des Umfangs - der gesamten Bevölkerung eines bestimmten Ortes; zweitens wegen der Schwere; und drittens ist auch die Geschwindigkeit, mit der dies geschieht, mit der es sich entfaltet hat, beispiellos. In meinem Leben habe ich so etwas noch nie gesehen, weder in Bezug auf die Schwere noch auf das Ausmaß und auch nicht in Bezug auf die Geschwindigkeit", sagte Arif Husain, der Chefökonom des Welternährungsprogramms, dem New Yorker.

Seit dem Terrorangriff der Hamas und den Vergeltungsangriffen der Israelis wurden 85 Prozent der Bevölkerung - 1,9 Millionen Menschen - vertrieben. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen gibt es im Gazastreifen nur eine Dusche für 4500 Menschen und eine Toilette für 220 Menschen. Ein Großteil der Bevölkerung lebt in improvisierten Unterkünften, trotz der zunehmenden Winterkälte haben viele Menschen nicht einmal ein Zelt über dem Kopf.

Nach wie vor ist der einzige geöffnete Grenzübergang der von Ägypten

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch beschuldigte Israel im vergangenen November, durch seine Blockade Hunger als Kriegswaffe einzusetzen. Nach internationalem Recht ist Israel verpflichtet, alle verfügbaren Mittel einzusetzen, um die Versorgung des Gazastreifens mit Nahrungsmitteln und Medikamenten zu gewährleisten.

Das Land weigert sich aber, jene Grenzübergänge nach Gaza zu öffnen, die über israelisches Territorium führen. Von dort kamen vor dem Krieg etwa zwei Drittel aller Waren nach Gaza. Derzeit ist nur Rafah geöffnet, der einzige Übergang von Ägypten nach Gaza. Lkws mit Hilfsgütern müssen aber von dort erst einmal 35 Kilometer nach Israel fahren, um dort untersucht zu werden, ein Prozess, der mehrere Stunden dauert, und den Ägypten und Hilfsorganisationen für die Verzögerungen verantwortlich machen. Israel hingegen behauptet, mehr Lastwagen zu untersuchen, als dann tatsächlich nach Gaza fahren würden, am 14. Januar habe man etwa 150 Lkws abgefertigt. Verantwortlich für die Verzögerungen sei das Missmanagement auf ägyptischer Seite und in den palästinensischen Gebieten.

Ägypten hat bisher kaum palästinensische Geflüchtete auf sein Gebiet gelassen - Ausnahmen gibt es nur für die, die auch die ägyptische Staatsangehörigkeit beziehungsweise die eines Drittlandes haben oder schwer verletzt sind. Die Nachrichtenagentur Bloomberg berichtet aber, dass ägyptische "Vermittler" die Ausreise gegen Zahlung von 10 000 Dollar möglich machen. Bloomberg zitiert eine Palästinenserin namens Aya, die berichtet, dass sie im vergangenen Jahr ihre Eltern besucht habe und nach Ausbruch des Krieges mit ihrem Neugeborenen nicht in die Vereinigten Arabischen Emirate zurückkehren konnte, wo sie mit ihrem Mann lebt. Die Ausreise habe sie die genannten 10 000 Dollar gekostet. Die ägyptische Regierung bestreitet, dass es an der Grenze Bestechung gebe.

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