Süddeutsche Zeitung

Vertriebene:Auf der Flucht durch Europa

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Die Zahl der ukrainischen Flüchtlinge wird inzwischen auf zwei Millionen geschätzt. Ihre Verteilung innerhalb der EU ist politisch nicht festgelegt - auch in Deutschland dürften es noch mehr werden.

Von Roland Preuß, Berlin

Die Zahlen gehen nun in atemberaubendem Tempo nach oben. Am Sonntag erklärte die UN-Flüchtlingshilfsorganisation UNHCR, bisher hätten etwa 1,5 Millionen Ukrainer ihre Heimat verlassen. Dienstagmittag waren es laut UNHCR bereits mehr als zwei Millionen - 500 000 Menschen in zwei Tagen. Die große Mehrheit der Ukrainer sucht Schutz in EU-Ländern, vor allem in Polen, Ungarn und der Slowakei. In Deutschland sind nach Angaben des Bundesinnenministeriums seit Kriegsbeginn mehr als 64 000 Geflüchtete angekommen.

Das sind wenige im Vergleich zu den Nachbarstaaten der Ukraine. Allerdings, so viel ist klar, dürften noch deutlich mehr nach Deutschland kommen. Allein Bayern stellt sich auf mehr als 100 000 Menschen aus dem Kriegsgebiet ein. Wie viele es am Ende werden, ist schwer abzuschätzen. Das hängt mit dem Geschehen in der Ukraine zusammen, aber auch mit Unterschieden zu den großen Fluchtbewegungen aus Syrien oder Afghanistan.

Entscheidend ist erstens der Kriegsverlauf in der Ukraine. Je weiter die russische Armee vorrückt, und je brutaler sie dabei gegen die Bevölkerung vorgeht, desto mehr Menschen dürften nach Westen fliehen. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg bestätigte am Dienstag das, was Medienberichte, Aufnahmen aus sozialen Netzwerken und Augenzeugenberichte seit Tagen nahelegen: Es gebe "sehr glaubwürdige Berichte", denen zufolge Russland Zivilisten in der Ukraine bei der Evakuierung angreift.

Von zentraler Bedeutung ist zweitens die rechtliche Lage. Anders als etwa Syrer und Afghanen dürfen Ukrainer schon seit Jahren ohne Visum in alle EU-Staaten außer Irland einreisen und dort 90 Tage bleiben, wenn sie einen biometrischen Reisepass haben. Das hat Folgen für die Frage, wer für geflüchtete Ukrainer zuständig ist. Nach den EU-Asylregeln ist das der Mitgliedstaat, den ein Flüchtling als Erstes erreicht hat; reist er in ein anderes EU-Land weiter, so kann dieses den Asylsuchenden grundsätzlich in das Land zurückschicken, das dieser zuerst betreten hat. Spätestens die Flüchtlingskrise 2015 hat allerdings demonstriert, dass diese Regel oft nicht eingehalten wird und zu einer Überforderung von Grenzstaaten wie Griechenland führt.

Ein Asylverfahren ist nicht nötig

Wenn Migranten hingegen kein Visum benötigen, so wie Ukrainer, so können sie in der EU problemlos weiterreisen und in jedem Mitgliedstaat (außer Irland) einen Antrag auf internationalen Schutz stellen, den dieser Staat dann auch prüfen muss. Der Schutzsuchende darf nicht in ein anderes EU-Land zurückgeschickt werden, die Versorgung der Flüchtlinge kann nicht bei Grenzstaaten wie Polen abgeladen werden.

Damit gab es bereits eine grundsätzlich andere Ausgangslage, als sich die EU-Staaten am vergangenen Donnerstag auf eine gemeinsame und unkomplizierte Aufnahme von Ukrainern verständigt haben und die sogenannte Richtlinie für den "massenhaften Zustrom" Vertriebener in Kraft setzten. Ein Asylverfahren ist damit nicht nötig, das Bundesinnenministerium rät Ukrainern sogar davon ab. Den Schutzsuchenden werden durch den EU-Beschluss überall in der EU bestimmte Rechte eingeräumt, etwa der Zugang zu sozialer Unterstützung sowie eine Arbeitserlaubnis.

Damit ist keine feste Verteilung der Flüchtlinge verbunden, so wie sie auf EU-Ebene immer wieder gefordert wurde. Vielmehr verteilen sich die flüchtenden Ukrainer nun selbst über Europa, es gibt keine politische Steuerung. Und damit erst recht keine Zahl an Geflüchteten, auf die man sich einstellen könnte.

Den Kontrast macht der Vergleich zu Großbritannien deutlich, das von Ukrainern weiterhin Visa verlangt. Laut dem Londoner Innenministerium hatten die britischen Behörden seit Kriegsbeginn bis Montag gerade einmal 300 Visa an Ukrainer ausgestellt. Nach Kritik versprach Premier Boris Johnson, gegenüber Flüchtlingen "sehr großzügig" zu sein. Was dies bedeutet, sagte er im Detail allerdings nicht.

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