Süddeutsche Zeitung

Diskussion um Flüchtlinge:Deutschland ist stark genug für diese Krise

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Manche glauben, die Gesellschaft sei wegen der Flüchtlingskrise so tief gespalten wie kaum je zuvor. Sogar Weimar wird beschworen. Das ist Unsinn.

Kommentar von Joachim Käppner

Weimarer Verhältnisse sah ein großer Vordenker der Freiheit schon heraufziehen. Da sei, schrieb er warnend, einerseits die große Koalition als "Flucht vor klarer Verantwortung", andererseits "ein wachsender Anti-System-Affekt" in Teilen der Bevölkerung. Dort greife "die Idealisierung eines imaginären Volkswillens" um sich, die aber nichts anderes sei als "die unpolitische Haltung des Selbstmitleids".

Seltsam vertraut klingen solche Klagen. Aber es geht in diesem Text nicht um die Litaneien von Pegida und AfD, nicht um die Verrohung der politischen Kultur, nicht um die durch Flüchtlingskrise und islamistischen Terror unter Druck geratene große Koalition in Berlin. Diese Warnung ist fast 50 Jahre alt.

Verfasst hat sie damals Karl Dietrich Bracher, Politikprofessor und Begründer der entschieden demokratischen "Bonner Schule". Er war 1966 tief besorgt angesichts von Wahlerfolgen der NPD in den Ländern, der Radikalisierung auf der Linken, der als lähmend empfundenen Allianz von SPD und Union im Bund und der Rückkehr antiparlamentarischer Reflexe und Vorurteile. Bracher, Jahrgang 1922, hatte den Untergang Weimars noch selbst erlebt.

Aus der offenen Gesellschaft ist eben kein Polizeistaat geworden

Heute fühlen sich so unterschiedliche Politiker wie Thomas Oppermann oder Heiner Geißler und manche Publizisten durch Hetze, Rechtspopulismus und Angriffe auf Flüchtlingsheime an "Weimarer Verhältnisse" erinnert. Derlei Mahnungen sind gut gemeint, aber nicht gut begründet. Zeiten der Furcht sind auch immer Zeiten historischer Mythen, die dann zu Projektionsflächen für die Beurteilung der Gegenwart werden. Die viel beschworenen Lehren aus Weimar sind aber längst gezogen.

Die Republik ohne Republikaner, die Wehrlosigkeit ihrer Institutionen gegen die Ideologien von links und rechts, die maliziöse Macht der alten Eliten und Hitlers Aufstieg: Nichts davon lässt sich ernsthaft auf das siebte Jahrzehnt der Bundesrepublik übertragen. Diese ist als wehrhafte, von einem breiten Konsens getragene Demokratie stark genug, die Krisen zu bewältigen.

Nicht die Existenz von Krisen und Fehlern beweist eine Schwäche des Systems, wie viele zu glauben scheinen, die schon das "Staatsversagen" ausrufen, weil Angela Merkels Versuch misslungen ist, die Flüchtlinge zu einer gesamteuropäischen Aufgabe zu machen. Diese Art von Denken ist unpolitisch und geht bis auf die deutschen Romantiker und ihr Schwärmen von der heilen Welt zurück. Krisen und Fehler wird es immer wieder geben. Entscheidend ist, wie die Republik mit ihnen umgeht.

Um zu sehen, wie stark die Freiheit in Deutschland heute trotz allem ist, muss man nicht bis zu ihrem Untergang 1933 zurückblicken. Die Bundesrepublik selbst hat schon viel größere Gefahren überstanden als die derzeitigen, so ernst man diese gewiss nehmen muss. In den Siebzigern versuchten die Pastorentöchter und Bürgersöhne der RAF durch Terror jenen Ungeist des Faschismus zu bekämpfen, dessen Kinder doch auch gerade sie selbst waren. Als palästinensische und deutsche Terroristen 1976 in Entebbe bei einer Flugzeugentführung nur jüdische Geiseln behielten, um Israel zu erpressen, erinnerte dieser barbarische Akt viele an die Selektionen in Auschwitz.

Den Irrwegen auf der äußersten Linken entsprach eine Radikalisierung von rechts, die bis in die Unionsparteien reichte. Die Bundesrepublik war in den bleiernen Jahren ein tief gespaltenes Land, vielerorts zerriss der dünne Firnis der Zivilisation, der sich seit 1945 wieder gebildet hatte.

Die Demokratie hat diese Krise bestanden, nicht ohne Blessuren, aber souveräner

Heute erscheint der Hass einer Minderheit durch sein Echo im Netz bedeutender als er ist. Damals zeigte eine beängstigende Zahl von Deutschen, dass sie auf dem langen Weg von der Nazizeit in ein freiheitliches System noch nicht angekommen waren. Als Franz Josef Strauß 1977 wohl ernsthaft erörterte, RAF-Häftlinge zur Vergeltung für die Terrorakte ihrer Gesinnungsgenossen erschießen zu lassen, sprach der bayerische Wüterich nur aus, was viele Menschen dachten: dass Grundsätze von Demokratie und Rechtsstaat nur Schwäche bedeuteten.

Die Demokratie hat diese Krise bestanden, nicht ohne Blessuren, am Ende aber souveräner, als es viele für möglich hielten, die Briefe zur Verteidigung der Republik schrieben wie Heinrich Böll. Sie erlag glücklicherweise nicht der Versuchung, zum Schutz gegen Terror aus der offenen Gesellschaft einen Polizeistaat zu machen.

Darauf hatte die RAF in Deutschland gehofft, heute will der IS dies in Europa erreichen. Wenn man sich um die Demokratie in Deutschland sorgen muss, dann nicht, weil ihre Gegner und militanten Kritiker so stark wären - sondern weil ihre Verteidiger sie oftmals für viel schwächer halten, als sie es wirklich ist.

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SZ vom 29.03.2016
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