Süddeutsche Zeitung

Deutsche Flüchtlingspolitik:Menschen retten im Rahmen der Kunstfreiheit

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Nach der umstrittenen Wahl von Assad zum Präsidenten Syriens geht das Leiden dort weiter. Fast zehn Millionen Syrer sind auf der Flucht. Fragen zur Flüchtlingspolitik an Philipp Ruch vom "Zentrum für politische Schönheit", das mit spektakulären Aktionen auf deren Not aufmerksam macht.

Von Markus C. Schulte von Drach

Während sich Baschar al-Assad im Bürgerkriegsland Syrien erneut zum Präsidenten hat wählen lassen, geht das Flüchtlingsdrama weiter. 9,5 Millionen Menschen brauchen Hilfe. Unlängst hat Außenminister Frank-Walter Steinmeier angekündigt, Deutschland würde weitere 10 000 Syrer aufnehmen. Allerdings wurden die Zahlen vom Auswärtigen Amt umgehend dementiert. Fragen an Philipp Ruch vom "Zentrum für politische Schönheit", das mit seiner Kunstaktion "Danke, Manuela Schwesig" kürzlich auf die Not der syrischen Flüchtlinge aufmerksam gemacht hat.

SZ.de: Außenminister Steinmeier hat bei einem Besuch im Libanon, wo mehr als eine Million Syrer Zuflucht gesucht haben, 10 000 weitere Plätze für Flüchtlinge in Deutschland angekündigt. Die Zahlen wurden dann dementiert. Was halten Sie davon?

Philipp Ruch: Wir hoffen ja immer noch, dass er nur zurückgerudert ist, weil die Zahl 10 000 nicht stimmt und die Bundesregierung vielmehr 76 000 Plätze beschließen will. Vielleicht hat er etwas zu früh viel zu niedrige Zahlen herausgegeben. In der Region ist Notstand, da ist es nicht weiter verwunderlich, dass auch deutsche Politiker den Kopf verlieren.

Sie hatten bei Ihrer fingierten Aktion "Danke, Manuela Schwesig" kürzlich die Zahl von 55 000 Kindern ins Spiel gebracht, die das Familienministerium über eine "Kindertransporthilfe des Bundes" in deutsche Pflegefamilien bringen wolle. Was ist daraus geworden?

Das Familienministerium hat uns um Rat gefragt, was die Ministerin in Syrien konkret tun könnte. Wir haben dann vorsichtig darauf hingewiesen, dass es etwas merkwürdig sei, wenn ein Bundesministerium bei Theatermachern um Rat ersucht. Zumal es sich direkt an das Auswärtige Amt wenden kann, das doch hoffentlich fertige Pläne in den Schubladen hat für Maßnahmen von Brunnenbau bis Rettungsmissionen.

Sie haben gerade von 76 000 Plätzen gesprochen. Wieso ausgerechnet diese Zahl?

Das ist die Zahl der Anträge, die Deutsche mit syrischen Wurzeln gestellt haben, um Familienangehörige unter den Flüchtlingen nach Deutschland zu holen. Allerdings sieht das von der Bundesregierung im Dezember beschlossene Kontingent nur 5000 Plätze vor. Dass ein derart großes Interesse besteht, war dem Kanzleramt übrigens bis vor Kurzem nicht bekannt.

Woher wissen Sie das?

Wir waren kürzlich zum Gespräch geladen, gemeinsam mit zwei jüdischen Holocaust-Überlebenden, die ihr Leben den großzügigen Einreiseregelungen der britischen Regierung verdanken. Kurt Gutmann und Inge Lammel gehören zu den fast 10 000 Kindern, die Großbritannien 1938/39 aus Deutschland hat einreisen lassen, während alle alliierten Staaten Flüchtlingsabwehrpolitik betrieben haben. Im Verlauf des Gesprächs stellte sich heraus, dass das Kanzleramt weder den Ernst der Lage in Syrien begriffen hat, noch davon weiß, dass ihr 5000er-Kontingent einen regelrechten "Run" ausgelöst hat. Das Kanzleramt hat erschreckend wenig Ahnung davon, wie übererfolgreich ihre eigenen Nothilfeprogramme in Syrien sind.

Und woher haben Sie die Zahlen zu den Anträgen?

Das kam um sieben Ecken über eine Anfrage der Grünen in Baden-Württemberg an die Landesregierung heraus. Bei den 76 000 Anträgen handelt es sich um die offiziellen Zahlen der Bundesländer.

Steinmeier hat erklärt, die Aufnahme weiterer Flüchtlinge müsse mit den Ländern diskutiert werden.

Die Bundesregierung versucht komplett, das auf die Länder abzuwälzen. Das wurde bei unserem Besuch im Kanzleramt überdeutlich. Der größte Mitgliedstaat der EU betreibt angesichts der größten Flüchtlingskatastrophe seit mindestens 20 Jahren Flüchtlingsabwehr.

10 000 weitere Flüchtlinge - das wäre immerhin eine Verdopplung der bisherigen Zahlen der beiden Sonderprogramme gewesen.

Das wäre nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Unicef spricht von 5,5 Millionen akut hilfsbedürftigen Kindern. 55 000 Kinder aufzunehmen, wie wir es mit der "Dankes"-Kampagne erreichen wollen, hieße, ein Prozent aller Kinder zu retten. Wir haben an unserer "Flüchtlingszulassungsstelle" in Berlin deshalb auch die Show "1 aus 100" gespielt. Dort konnten Besucher ein syrisches Kind aus hundert auswählen, das nach Deutschland kommen darf. Und selbst diese Zahl wirkt angesichts der derzeitigen Bundespolitik schon utopisch. Da wir fast zehn Millionen Flüchtlinge haben, spielt die Bundesregierung gewissermaßen sogar eins aus eintausend. In was für einer Welt leben wir, in der die Rettung von einem Prozent wie eine Utopie anmutet?

Wie geht Ihre Aktion nun weiter?

Ein Kind wird das große "1 aus 100"-Voting gewinnen müssen. Das Voting läuft online noch bis Sonntag. Dieses Kind wird dem Krieg mit seinen horrenden Flüchtlingszahlen in Deutschland ein Gesicht geben. Wir können nicht alle Kinder retten. Aber als Schlusspunkt unseres hyperrealistischen Theaterstücks werden wir wenigstens ein einziges Kind retten.

Ist das noch Kunst?

Wissen Sie, die Kunstfreiheit wird zu legalistisch verstanden. Aktionskunst wirft immer die Frage auf, wie frei die Kunst ist. Wenn irgendwelche Zuschauer dem Zentrum für Politische Schönheit verbieten wollen, Menschenleben zu retten, dann haben sie keinen zeitgemäßen Kunstbegriff. Die Kunst ist völlig frei. Nicht nur in dem Sinne, dass sie im rechtlichen Sinne frei ist, Dinge zu sagen oder zu tun, die Privatpersonen nicht sagen oder tun dürfen. Künstler haben als Avantgarde über Jahrhunderte Grenzen verschoben. Im Rahmen der Kunstfreiheit Menschen zu retten, verschiebt eine ultimative Grenze, und zwar auf sinnvolle Weise.

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