Süddeutsche Zeitung

Rechtsextremismus:Für die Demokratie ist jeder Einzelne wichtig

Lesezeit: 3 min

Rechte Ideologie lässt sich mit dem Weltbild von immer mehr Menschen irgendwie vereinbaren. Staat und Bürger müssen der Gefahr gemeinsam begegnen.

Kommentar von Meredith Haaf

Im Lauf der vergangenen anderthalb Jahre haben Rechtsextreme in Deutschland zwei Mehrfachmorde in Halle und Hanau verübt und einen Politikermord in Kassel. Es wurden zahlreiche rassistische und anti-linke Drohungen gegen Politikerinnen, Juristinnen und Künstlerinnen abgesetzt, zum Teil höchstwahrscheinlich von Polizisten selbst oder mit deren Hilfe. Zudem sind Waffendepots rechtsnationalistischer Verschwörungsgruppen entdeckt worden, während eine in Teilen scharf rechts eingestellte Abteilung der Bundeswehr es geschafft hat, ein ganzes Arsenal verschwinden zu lassen. Aber natürlich kann man auch im Jahr 2020 sein Leben leben ohne nur das leiseste Gefühl, es gebe in diesem Land ein bedrohliches Problem mit rechtem Extremismus.

Man muss dafür nicht sonderlich weltabgewandt sein. Anscheinend ist es möglich, aus Gründen der Freiheitsliebe auf einer Demonstration zwischen Reichskriegsflaggen zu laufen, neben Menschen, die laut ihren Transparenten Politikerinnen und Wissenschaftlern das Schicksal von KZ-Häftlingen im Nationalsozialismus wünschen. In solcher Gesellschaft machten viele Corona-Demonstranten vergangene Woche in Berlin mit, auch deren Chef-Animateur Michael Ballweg.

Im Alltag dagegen reicht es schon, eine durchschnittliche Existenz zu führen, in der Migrationshintergrund, eine dunkle Hautfarbe oder die Zugehörigkeit zum Islam oder Judentum keine Rolle spielen, um von dem Thema Rechtsextremismus unbehelligt zu bleiben. Wer seinen Alltag in Berlin-Mitte oder -Kreuzberg, in München oder Köln verbringt, erlebt eher keine Gefahr von rechts. Es ist ja nicht so, als würde eine rechte politische Kultur überall den öffentlichen Raum dominieren. In bestimmten Stadtteilen von Dresden, Leipzig oder Dortmund sieht es allerdings anders aus.

Aus Sicht der Unbehelligten könnte es also genügen, dass wenige Polizisten vergangenes Wochenende in der Lage waren, die Leute, die den Reichstag stürmen wollten, zu vertreiben. Die AfD hat keine Mehrheit - und Deutschland einen Bundespräsidenten, der den "Angriff auf das Herz der Demokratie" scharf verurteilt. Allem Anschein nach arbeitet dieses Herz weiter. Ungestört von gewaltgeilen Verschwörungstheorien und den Visionen entfesselter Heilpraktikerinnen trat der Bundestag diese Woche wie immer zusammen.

In Polizei und Justiz muss eine Kultur der Offenheit gefördert werden

Doch solche Gelassenheit beruht auf trügerischen Eindrücken, schon weil Rechtsextremismus auch nicht so leicht zu bekämpfen ist. Die eine rechte politische Kultur, die sich über Milieus, habituelle Merkmale und ein geschlossenes Weltbild klar von der übrigen Gesellschaft unterscheidet, gibt es gar nicht. Die Ausbreitung rechter Ideologie äußert sich heute denn auch weniger darin, dass sich ihr immer mehr Menschen aktiv verschreiben und sie organisiert nach außen vertreten; sondern darin, dass sie sich mit dem Weltbild von immer mehr Menschen irgendwie vereinbaren lässt.

Damit soll nicht gesagt werden, die Gruppen der harten Rechten hätten keine Gemeinsamkeiten. So findet in ihnen - neben dem antisemitischen und antifeministischen Gerede von einer "Umvolkungs"-Verschwörung - ein antiparlamentarischer Autoritarismus viel Anklang. Dieser wird von vielen neuen Rechts-Mitläufern ausgerechnet mit dem Wunsch nach mehr Freiheit und weniger Kontrolle von oben begründet.

Wer der extremen Rechten entgegentreten will, hat zu bedenken, dass das "Herz der Demokratie" als Organ nicht für sich allein bestehen kann. Staat, Justiz, Gesellschaft - und damit jeder Einzelne - müssen arbeiten, um es zu versorgen. Allgemeine Appelle an "Demokraten" oder "Bürger" lassen außer Acht, dass der wehrhafte Umgang mit Rechtsextremismus in einer differenzierten Gesellschaft auch differenziert ausgeübt werden muss.

Erste Voraussetzung ist der Wille zur Wehrhaftigkeit. Es darf keine Offenheit gegenüber Extremisten geben. Rassismus und Demokratiefeindlichkeit dürfen in der Exekutive nicht toleriert werden. Vielmehr ist in Polizei und Justiz eine demokratische Kultur der Offenheit zu fördern.

Auch die gesellschaftliche Friedenspraxis ist wichtig

Kommunalpolitiker, Abgeordnete oder Minister haben das Recht, Gegenwehr gegen diejenigen zu betreiben, die ihnen ihre Amtsberechtigung absprechen und zum Teil nach dem Leben trachten. Zugleich haben sie als Repräsentanten einer freien Demokratie die Verpflichtung, Offenheit für Kritik und die Fähigkeit zur Selbstkorrektur zu zeigen. Letzteres gilt auch für die Medien. Sie haben einen Aufklärungs- und Kritikauftrag. Ihre Freiheit ist nur in einer Demokratie gewährleistet, deswegen müssen sie diese schon aus Selbstschutz verteidigen - jedoch immer in Distanz zu Staatsorganen und Politik. Das bedeutet nicht, sich politisch indifferent zu verhalten, sondern erfordert Genauigkeit und Transparenz in alle Richtungen.

Nicht zuletzt stellt sich die Frage, was es für den Einzelnen bedeutet, mit dem Problem Rechtsextremismus umzugehen. Menschen, die von ihm direkt angefeindet werden, können und sollten diese Last nicht allein tragen. An der Demokratie mitzuwirken muss nicht bedeuten, in ihrem Herzen zu arbeiten, in der Öffentlichkeit oder in irgendeinem politischen Gremium. Genauso wichtig ist das, was man gesellschaftliche Friedenspraxis - passive oder aktive - nennen könnte.

Das kann für die einen bedeuten, auf antirassistische Demonstrationen zu gehen, für andere, mit ihren Nachbarn weiter zu diskutieren, auch wenn man dabei dauernd Skepsis gegenüber allen möglichen Weltverschwörungen äußern muss. Es sollte auf jeden Fall bedeuten, sich ein anderes Forum für Kritik an der Regierung zu suchen oder zu schaffen als eine Pseudo-Querfront wie bei den Demos in Berlin. Zumindest gilt es, Ohren und Augen aufzusperren und anderen zu helfen, wenn sie bedroht werden. Gelassenheit, heißt es, ist ein Zeichen von Stärke. Doch das gilt nur, wenn man auch anders kann.

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Quelle:
SZ vom 05.09.2020
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