Süddeutsche Zeitung

Digitale Propaganda in der Corona-Krise:Strategien der Verwirrung

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Von Matthias Kolb, Brüssel

Die Europäische Union warnt vor Desinformationskampagnen, welche die Gesundheit ihrer Bürger beim Kampf gegen die Corona-Pandemie gefährden könnten. "Offizielle und staatlich gestützte Quellen aus Russland und - in geringerem Ausmaß - China verbreiten Verschwörungstheorien, die sich an Menschen in der EU ebenso richten wie in der weiteren Nachbarschaft", steht in einem internen Expertenbericht des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD). Er liegt der SZ vor, zuerst berichtete Politico.

Nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland wurde im EAD eine Abteilung für "Strategische Kommunikation" eingerichtet. Seit 2015 werden auf der Webseite EUvsDisinfo.eu falsche Informationen richtiggestellt und Analysen publiziert. Die "East StratCom Task Force" registrierte am 22. Januar die erste Theorie, wonach "das neue chinesische Coronavirus wohl in einem Nato-Labor" entwickelt worden sei. Nach 1000 weiteren, als "pro-Kreml" eingestuften Fällen unterstellt der EAD Moskau zwei Ziele: Das Vertrauen in die Einheit der EU und die Wirksamkeit der Reaktion auf Covid-19 soll "unterminiert" sowie "Verwirrung über die gesundheitlichen Folgen" gestreut werden.

Der "mögliche Schaden ist als hoch einzustufen", denn Medien wie Sputnik und RT behaupten, dass Händewaschen nicht wirksam zur Prävention sei oder Vitamin C als Schutz ausreiche. Mitunter heißt es auch, Corona sei ein "Scherz". Zu lesen sind die Meldungen in zehn Sprachen, sie werden koordiniert über soziale Medien verbreitet. Die im April von EU-Kommissarin Věra Jourová in der SZ geäußerte Kritik, Firmen wie Google würden Geld verdienen, indem sie Anzeigen "auf Websites stellen, die Lügen verbreiten", wird erneuert.

Schon Ende März hatte Josep Borrell, der Hohe Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik der EU, vom "globalen Kampf der Narrative" geschrieben, der rund um Corona tobe. Laut EAD bemühen sich "offizielle chinesische Quellen" weiter, von "jeglicher Schuld am Ausbruch der Pandemie" abzulenken. Dies geschehe sowohl "offen als auch verdeckt", in mehreren Sprachen und Kanälen sowie verstärkt durch Chinas Diplomaten oder Beamten.

Dies deckt sich mit Analysen des US-Thinktanks German Marshall Fund. "Obwohl Twitter in China verboten ist, sind seit März 2019 die offiziellen Twitter-Accounts von Chinas Botschaften und Konsulaten explodiert", sagt Kristine Berzina. Diese agieren oft aggressiv, wie zuletzt in Frankreich und Brasilien zu beobachten war. Berzina bemerkt ein geändertes Narrativ Pekings: Während früher das Hauptziel war, die Volksrepublik positiv darzustellen, gehe es nun auch darum, "für Verwirrung zu sorgen", widersprüchliche Thesen zu verbreiten und den Westen zu kritisieren. "China wird also etwas russischer", urteilt die Expertin der Denkfabrik.

Der EAD-Bericht dokumentiert Fälle aus Italien und Serbien, wo Bot-Netzwerke Berichte über Lieferungen Chinas für diese Staaten auf Twitter verbreiteten. Viele solcher Kampagnen setzen bei realen Ereignissen an und nutzen die oft sorgsam inszenierten Aktionen. Insofern zahlen die EU-Staaten den Preis für ihr anfangs zögerliches Handeln, als es um Solidarität mit Italien oder Ländern des Westbalkans ging. Mit dem Umfang der geleisteten Hilfe hat dies wenig zu tun: Am Dienstag lieferte etwa Österreich Handschuhe und Desinfektionsmittel nach Bosnien und Herzegowina, Nordmazedonien, Montenegro und die Republik Moldau; die Slowakei schickte Masken und Desinfektionsmittel nach Italien.

Josep Borrell, der seit Wochen im Rahmen von EU und Nato mit den Außen- und Verteidigungsministern über Desinformation redet, lobt diese Solidarität. Wie Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hält er Fakten sowie Berichte unabhängiger Medien für geeignete Mittel gegen solche Kampagnen. Zugleich müssten die Bürger mehr über die Hilfe der EU erfahren. Der Zeit sagte der Spanier kürzlich: "Wir haben heute dieselben Kommunikationsprobleme wie während der Euro-Krise. Um Solidarität zu organisieren, brauchen wir eine gemeinsame Erzählung." Bisher machten es Europas Politiker den geopolitischen Konkurrenten zu häufig zu leicht, das Bild einer gespaltenen und egoistischen EU zu verbreiten.

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Quelle:
SZ vom 22.04.2020
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