Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:Neuwahlen als taktisches Instrument

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Boris Johnsons Plan scheint zu funktionieren, er geht mit großem Vorsprung in den Wahlkampf. Doch über den Sieg werden auch andere Themen als der Brexit entscheiden. Wie schon 2017 bei Vorgängerin May könnte es eine Überraschung geben.

Kommentar von Cathrin Kahlweit, London

Schon eine Stunde nach der Abstimmung standen erste Wahlkämpfer im Unterhaus an den Wohnungstüren der Briten, um ihre Argumente vorzutragen und Flugblätter zu überreichen. Es ist nämlich nicht so, dass die Nation vom Beschluss, dass im Dezember wieder gewählt wird, überrascht worden wäre. Alle Parteien hatten betont, dass vorgezogene Neuwahlen dringend nötig wären, nur auf einen Termin und die Bedingungen konnte man sich nicht einigen.

Nun steht er fest: 12. Dezember. Sehr schnell nachdem Premierminister Boris Johnson einen neuen Deal aus Brüssel mitgebracht hat, soll also gewählt werden, anstatt letztgültig über den Deal abzustimmen. Das zeigt, wie sehr der Brexit mittlerweile Mittel zum Zweck, taktisches Instrument und Ersatzreligion geworden ist. Es geht Johnson gar nicht darum, so bald wie möglich einen Vertrag ratifizieren zu lassen, mit dem er keine ganz schlechten Chancen im Unterhaus gehabt hätte. Es geht dem Premierminister vielmehr darum, mit dem Versprechen eines nur von den Tories zu bewältigenden EU-Austritts und mit dem Wahlkampfschlager von der angeblichen Brexit-Verschleppung durch die Opposition eine möglichst große Mehrheit herauszuholen.

Das ist in der Politik legitim, macht aber die Argumente der Tories für Wahlen nicht unbedingt glaubwürdiger. Johnson hofft, dass die Briten seine Tories beauftragen werden, den Brexit im Eiltempo durchzupeitschen. Er setzt auf die schlechten Umfragewerte von Labour und darauf, dass die unklare Position der Linken zum EU-Austritt viele Wähler den Konservativen zutreiben wird. Dieser Plan könnte, wie Meinungsforscher voraussagen, gewaltig schiefgehen.

Denn Wahlen bringen, wie Johnsons Vorgängerin Theresa May 2017 erfahren musste, keine vorhersagbaren Ergebnisse, selbst wenn eine Partei mit einem Vorsprung von mehr als zehn Prozentpunkten ins Rennen geht - so wie die Tories 2017 und heute. Unklar ist, wohin sich die Wähler wenden werden, nun, da die Brexit-Partei von Nigel Farage wütende Anhänger eines EU-Austritts damit ködert, die Tories hätten den Brexit verbummelt. In Schottland dürften die Tories sowieso keinen Fuß mehr auf den Boden bekommen. Labour wiederum wird viele Stimmen an die europafreundlichen Liberaldemokraten abgeben. Alles könnte am Ende neu, alles ganz anders sein.

Johnson ist ein guter Wahlkämpfer, aber das ist Labour-Chef Jeremy Corbyn auch. Labour hat mit der Graswurzelbewegung Momentum, die den Parteichef kämpferisch unterstützt, eine überaus engagierte Truppe im Hintergrund. Die Tories hingegen sind intern gespalten, weil Johnson ihre liberale Mitte zunehmend zum Verstummen bringt. Außerdem werden diese Wahlen zweifelsohne nicht nur an der Brexit-Front entschieden. Corbyn verspricht einen "radikalen Wandel und mehr soziale Gerechtigkeit", Johnson verspricht Milliardeninvestitionen für Gesundheit und Sicherheit.

Das Thema, das drei Jahre lang alles dominiert hat in Großbritannien, wird schnell von anderen, maßgeblichen Problemen überlagert werden, von denen das Land so viele hat. Der Wahlkampf wird hart und böse werden. Und am Ende könnte wieder eine Regierung ohne eigene Mehrheit stehen.

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SZ vom 31.10.2019
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