Süddeutsche Zeitung

Brexit:"Sehr spezifischer und begrenzter" Rechtsbruch

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Premier Johnson will den Austrittsvertrag mit der EU offenbar teilweise aushebeln. Der Chefjustiziar der Regierung ist aus Protest zurückgetreten.

Von Alexander Mühlauer, London

Jonathan Jones hatte genug. Der Chefjustiziar der britischen Regierung trat am Dienstag kurz vor Beginn der achten Brexit-Verhandlungsrunde zurück. Dem Vernehmen nach soll er mit dem anvisierten Vertragsbruch von Boris Johnson nicht einverstanden gewesen sein. Einem Bericht des Daily Telegraph zufolge hatte der Premierminister grundlegende Änderungen am bereits gültigen Austrittsvertrag gefordert. Dieser sei "widersprüchlich" und müsse deshalb verändert werden, um die Einheit des Vereinigten Königreichs zu wahren. Geschehe dies nicht, würde Nordirland von Großbritannien isoliert - dies sei "unvorhergesehen" gewesen, als er im vergangenen Jahr dem Vertrag zugestimmt habe, so Johnson.

Auf EU-Seite löste der Bericht Irritation und Empörung aus. EU-Parlamentspräsident David Sassoli warnte Großbritannien vor "ernsten Konsequenzen", sollte London den Austrittsvertrag unterminieren wollen. Auch der irische Ministerpräsident Micheál Martin warnte vor einem Vertragsbruch - dies führe dazu, dass alle Verhandlungen "null und nichtig" seien. Bereits am Montag hatte die Financial Times berichtet, der Premier wolle Teile des Austrittsvertrags durch ein neues nationales Gesetz aushebeln. Es geht dabei um Zusagen im Protokoll über Irland und Nordirland: Demnach muss sich das Vereinigte Königreich bei staatlichen Beihilfen weitgehend an EU-Regeln halten. Um das zu verhindern, will die britische Regierung an diesem Mittwoch ein Binnenmarktgesetz vorlegen.

Downing Street behauptete zunächst, es sollten lediglich "geringfügige Klarstellungen" vorgenommen werden. Am Dienstag aber bestätigte der für Nordirland zuständige Minister Brandon Lewis im Unterhaus: "Ja, dies verstößt in sehr spezifischer und begrenzter Weise gegen internationales Recht." Johnsons Vorgängerin Theresa May fragte daraufhin: "Wie kann die Regierung künftigen internationalen Partnern versichern, dass sie darauf vertrauen können, dass das Vereinigte Königreich die rechtlichen Verpflichtungen der von ihm unterzeichneten Abkommen einhält?"

Johnsons Manöver zielt auf den Knackpunkt der Verhandlungen: die Zukunft der irischen Insel. Der Premier selbst hat den Vertrag ausgehandelt, er stimmte einer Lösung zu, die May einst abgelehnt hatte, da dies "kein Premierminister jemals akzeptieren könne". Johnson willigte ein, dass Nordirland in vielen Bereichen Teil des EU-Wirtschaftsraums bleibt - anders als der Rest des Vereinigten Königreichs.

Vom "fantastischen Deal" will Johnson nichts mehr wissen

Um Kontrollen - und damit eine harte Grenze - auf der irischen Insel zu verhindern, hat sich Nordirland etwa bei Gütern weiter an EU-Produktstandards zu halten. So muss an der inneririschen Grenze nicht geprüft werden, ob Lkw-Ladungen EU-Verbraucherschutzregeln entsprechen. Die Kontrollen sollen stattdessen an den nordirischen Häfen stattfinden, auch für Lieferungen aus England, Schottland und Wales. Außerdem sollen die Beamten in den Häfen EU-Zollregeln anwenden, also EU-Zölle erheben. Auf dem Papier bleibt Nordirland jedoch Teil des britischen Zollgebiets.

Diese komplizierte Regel gilt von 1. Januar an, wenn Großbritannien den EU-Binnenmarkt und die Zollunion verlässt. Das bedeutet aber auch, dass es Kontrollen für den Warenverkehr zwischen Großbritannien und Nordirland geben wird. Johnson hatte das vor seinem Wahlsieg im Dezember geleugnet - obwohl er dieser Lösung zugestimmt hatte. Er nannte den Austrittsvertrag sogar einen "fantastischen Deal", holte damit einen furiosen Wahlsieg und führte das Vereinigte Königreich am 31. Januar aus der Europäischen Union.

Nun will er von all dem offenbar nichts mehr wissen. Mit seinem Kurs erhöht Johnson die ohnehin schon hohen Spannungen im Brexit-Streit. Erst am Montag hatte er der EU ein Ultimatum gestellt: Er forderte bis zum 15. Oktober, dem Tag des nächsten regulären EU-Gipfels, eine Einigung über die künftigen Beziehungen. Sollte dies nicht gelingen, werde es kein Freihandelsabkommen mit ihm geben. Im Fall eines Scheiterns der Verhandlungen würden vom 1. Januar an Zölle und Zollkontrollen eingeführt.

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SZ vom 09.09.2020
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