Süddeutsche Zeitung

Brexit-Abstimmung:Es wird knapp für Johnson

Lesezeit: 4 min

Von Cathrin Kahlweit, London

Weil so viel von der DUP abhängt, hörte am Freitagmorgen so ungefähr jeder, der sich in Großbritannien für den Brexit interessiert - oder sogar politisch für seine Umsetzung verantwortlich ist - aufmerksam dem nordirischen Abgeordneten Sammy Wilson zu. Er ist der Brexit-Sprecher der protestantischen, unionistischen DUP. Diese Partei könnte über das Schicksal des Vertrags entscheiden, den unermüdliche Beamte in London und Brüssel ausgehandelt hatten und den der britische Premier Boris Johnson und EU-Chefunterhändler Michel Barnier am Donnerstag erleichtert präsentierten.

Da wusste Johnson schon, dass die DUP den Vertrag nicht gutheißen würde. Und dass es an diesem Samstag auf jede Stimme ankommen würde. Das Unterhaus muss grundsätzlich entscheiden, ob der Austrittsvertrag in der kommenden Woche in Gesetzesform gegossen und Stück um Stück beraten und beschlossen wird. Oder ob Großbritannien - und damit die EU - in die nächste Runde geht. Die deutsche Bundeskanzlerin hatte am Freitag bereits signalisiert, dass eine weitere Verlängerung wohl sein müsse, wenn das britische Parlament sich erneut verweigert.

Die Protestanten rufen die Brexiteers ebenfalls zum Nein auf

Sammy Wilson ist ein kleiner, bulliger Typ mit rosiger Gesichtsfarbe, der oft im Schatten von Parteichefin Arlene Foster steht, einer ziemlich resoluten Dame, und von Nigel Dodds, dem mindestens ebenso resoluten Fraktionschef der DUP im Unterhaus. Am Freitagmorgen aber war es Wilson, der im BBC-Studio saß. Er antwortete auf die Frage, ob noch irgendetwas, das der Premier tue oder verspreche, die zehn DUP-Abgeordneten umstimmen und am Samstag zu einem Ja bewegen könne, mit einem schlichten: "Nein."

Der Deal sei schlecht für die nordirische Wirtschaft, erläuterte er dann, und schlecht für die Bevölkerung. Dass er auch abträglich für die Bedeutung der DUP in Nordirland sein könnte, erwähnte Wilson nicht. Denn die Mehrheit der Nordiren hat für "Remain" gestimmt. Eine Partei, die den Verbleib des Nordteils der Insel im Einflussbereich der EU verhindern will, dürfte langfristig Probleme bekommen.

Die Nordiren hoffen auf die Solidarität der EU-Gegner

Aber Wilson ging noch weiter. Man sei im Gespräch mit zahlreichen Brexiteers aus der Tory-Partei, sagte er. Sie sollten zu ihrem Wort stehen und auch gegen das Austrittsabkommen stimmen. Er sei sich sicher, so Wilson, dass man einigen von ihnen ins Gewissen reden könne. Die Mitglieder der European Research Group (ERG), einer EU-feindlichen Gruppierung in der Tory-Fraktion, hatten mit überwiegender Mehrheit im Frühjahr gegen den Deal von Theresa May gestimmt. Damals hatten sie argumentiert, nicht nur überlasse der Vertrag Brüssel zu lange und zu weitgehend die Kontrolle über die Geschickes des Königreichs. Sondern zudem müsse man die DUP in ihrem Kampf gegen den Backstop unterstützen.

Die Nordiren hoffen nun, dass diese Solidarität bestehen bleibt. Aber danach sieht es nicht aus. Maßgebliche Brexiteers haben mitgeteilt, der vorliegende Vertrag sei ganz großartig. Wo Fragen offengeblieben seien, vertraue man Boris Johnson voll und ganz. Die ERG trifft sich vor der entscheidenden Sitzung im Unterhaus zu einem letzten Kriegsrat; vorher werde es, heißt es, keine Informationen über das Abstimmungsverhalten der Gruppe geben. Allerdings waren die ERG-Chefs zuletzt häufig in der Downing Street gewesen. Das letzte Mal, als sie die berühmte Tür von Nummer 10 durchschritten, zeigten ihre Daumen nach oben.

Johnson braucht 320 Stimmen. Weil er seit Wochen keine Mehrheit mehr im Unterhaus hat, wird nun hin- und hergerechnet, was das Zeug hält. Wer ist dafür und wer dagegen, wer fällt um, wer bleibt hart? Der Guardian spricht von "letzten, hektischen Verkaufsgesprächen vor einer superknappen Abstimmung". Überzeugen, überreden, bezahlen oder becircen - das war am Freitag denn auch die Aufgabe des Premiers, des Kabinetts und der Downing-Street-Mitarbeiter. Alle maßgeblichen Medien haben Statistiken und Grafiken erstellt, wer wie abstimmen könnte, die meisten kamen auf eine knappe Mehrheit gegen Boris Johnson.

Aber eben nicht alle. Jede Wortmeldung, jeder Tweet wurde von der sensationshungrigen Nation darauf abgeklopft, wer umgefallen oder an Bord gegangen war. Dabei haben sich viele Abgeordnete noch nicht geäußert, weil sie sich nicht von Wählern, Parteichefs oder Kollegen unter Druck setzen lassen wollen. Manche - zumal jene, die womöglich mit Investitions- und Geldversprechen für ihre Wahlkreise geködert werden - dürften nicht wollen, dass die milden Gaben der Regierung vor der Abstimmung ans Licht kommen.

Labour drängt auf eine Ablehnung des Deals

Labour-Vize John McDonnell beteuerte derweil, er gehe davon aus, dass man keine Zwangsmaßnahmen ergreifen müsse, um sozialistischen Abgeordneten klarzumachen, dass dieser Deal unerträglich sei: "Kein Labour-Abgeordneter kann ernstlich dafür stimmen." Arbeiter- und Verbraucherrechte sowie Umweltstandards würden unterminiert, die Gewerkschaften seien auch dagegen, und Johnson sei nicht zu trauen. Er werde mit jenen Kollegen, die für den Deal stimmen wollten, "ein kleines Schwätzchen halten".

Aber so ganz locker sah die Parteiführung die Sache dann natürlich doch nicht. Denn kurz darauf twitterte Jon Lansman von Momentum, Chef der Unterstützergruppe von Parteiführer Jeremy Corbyn, jeder Labour-Parlamentarier, der mit Ja stimme, werde bei der nächsten Wahl nicht mehr aufgestellt.

Die Folgen des Supersamstags sind nicht absehbar

Zu den Wackelkandidaten gehören auch die Ex-Tories, die ihre Fraktion verlassen mussten, weil sie für ein Gesetz gestimmt hatten, das No Deal verhindern soll. Die meisten werden wohl mit Ja votieren. Viele sind ihrer Partei treu geblieben und wollen nun solidarisch sein. Sollte der Vertrag knapp scheitern, wird das Benn-Gesetz umgesetzt; dann müsste Johnson Brüssel um eine Verlängerung bitten.

Aber es gibt schon neue Spekulationen: Die ERG werde für den Deal stimmen, ihn aber kommende Woche - möglicherweise mit stillschweigender Billigung Johnsons - bei der Umwandlung in britisches Gesetz scheitern lassen. So kämen die Brexiteers zu ihrem favorisierten No Deal. Und Sammy Wilson von der DUP verwies verschmitzt darauf, dass es Johnson nützen könne, wenn er verliert. Wenn er als Held der Tories bei den Wahlen absahne, könne er hinterher mit einer großen Mehrheit nach Brüssel ziehen und dort umso mehr Zugeständnisse fordern. Wie man es dreht und wendet: Die Folgen des Supersamstags sind mehr als unabsehbar.

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Quelle:
SZ vom 19.10.2019
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