Süddeutsche Zeitung

Brexit:EU übt sich in Geduld

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Von Alexander Mühlauer, Brüssel

So gelassen reagierte Donald Tusk schon lange nicht mehr auf Nachrichten aus London. "Lasst uns geduldig sein", twitterte der EU-Ratspräsident nach der Ankündigung von Theresa May am Dienstagabend. Gleich danach legten er und seine engsten Mitarbeiter die Worte der britischen Premierministerin auf die Goldwaage. Abgesehen von Mays bemerkenswerter Kehrtwende, nun doch einen Konsens mit Labour zu suchen, fiel den Brüsseler Beamten bei der Exegese von Mays Statement vor allem eines auf: Wie so oft in diesem Brexit-Drama ließ sie die EU im Unklaren, was sie nun wirklich will.

Kein Wunder also, dass man sich in Brüssel auf allerlei Optionen vorbereitet. May hofft ja noch darauf, mit einem weiteren kurzen Brexit-Aufschub bis zum 22. Mai die Teilnahme Großbritanniens an der Europawahl verhindern zu können. Das würde allerdings voraussetzen, dass es ihr gelingt, den mit Brüssel fertig verhandelten Austrittsvertrag noch vor dem EU-Sondergipfel am 10. April - also zwei Tage vor dem bisherigen Brexit-Datum - mit Hilfe von Labour durch das britische Parlament zu bringen. In Brüssel wird dieses Szenario zwar als wünschenswert, aber eher unwahrscheinlich erachtet.

Die EU stellt sich deshalb auf eine längere Brexit-Verschiebung ein. Im Gespräch ist etwa ein Jahr. In diesem Fall müsste Großbritannien aber an der Europawahl Ende Mai teilnehmen. Weil die EU auf keinen Fall die Schuld für einen immer noch möglichen No-Deal-Brexit auf sich nehmen will, erwägt man in Brüssel, May ein entsprechendes Angebot zu machen. Inwieweit Großbritannien dann auf seine Rechte als Noch-EU-Mitglied verzichten müsste, ist Verhandlungssache. Als Common Sense gilt unter den 27 verbleibenden EU-Staaten, dass sich London dazu verpflichten soll, bei den Gesprächen über den nächsten EU-Haushaltsrahmen nicht mehr mitzureden.

Einigen Mitgliedstaaten ist das aber bei Weitem nicht genug. So dringt Frankreich darauf, dass Großbritannien sich bei möglichst allen bedeutenden Entscheidungen über die Zukunft der EU enthält. Dazu würde dann auch die Wahl des neuen Kommissionspräsidenten zählen. Doch ob britischen Europaabgeordneten dieses und andere fundamentale Rechte verwehrt werden können, ist juristisch hoch umstritten. Während Paris weiter eine harte Linie gegenüber London verfolgt, hält man das britische Störpotenzial in Berlin für beherrschbar. Bundeskanzlerin Angela Merkel setzt schon seit einiger Zeit auf einen weitaus sanfteren Umgang mit Großbritannien als Emmanuel Macron.

Frankreichs Präsident Macron hält einen No-Deal-Brexit für "äußerst wahrscheinlich"

Erst am Dienstag erklärte Frankreichs Staatspräsident, dass die EU nicht dauerhaft "Geisel" einer politischen Krisenlösung in Großbritannien sein könne. Und stellte klar: Eine erneute Fristverlängerung für einen EU-Austritt Großbritanniens samt Beteiligung an der Europawahl sei weder selbstverständlich noch automatisch. "Unsere Priorität muss das gute Funktionieren der EU und des Binnenmarktes sein", sagte Macron. Ein No-Deal-Szenario hält man im Élysée noch immer für "äußerst wahrscheinlich". Merkel wiederum lässt keinen Zweifel daran, dass sie sich "bis zur letzten Stunde" dafür einsetzen werde, einen ungeordneten Brexit zu verhindern. In Brüssel ist die Hoffnung vieler Diplomaten groß, dass die Kanzlerin den französischen Heißsporn spätestens beim Sondergipfel einbremst.

Einfach wird das wohl nicht. Denn Macron hat nichts davon, wenn Großbritannien an der Europawahl teilnimmt. Im Gegenteil: Nach dem Brexit bekäme Frankreich neben Spanien die meisten neuen Sitze im Europäischen Parlament. Sollte der Austrittsprozess verlängert werden, müssten Paris und Madrid auf je fünf zusätzliche Abgeordnete verzichten. Für Macron, dessen Bewegung La République en Marche zu keiner etablierten europäischen Parteienfamilie gehört, käme hinzu, dass er keinerlei Verbündeten in Großbritannien hat. Labour würde in der sozialdemokratischen Fraktion bleiben und die Tories wohl bei der EU-kritischen EKR-Gruppe.

Am Mittwochnachmittag war es dann an Jean-Claude Juncker, eine etwas ausführlichere Antwort der EU auf Mays Erklärung zu geben. Im Europäischen Parlament lobte der Kommissionspräsident einmal mehr den mit der britischen Regierung verhandelten Austrittsvertrag als "ausgewogene Lösung". Die EU sei bereit, die darüber hinausgehende politische Erklärung weiter auszugestalten. Eine "enge Partnerschaft" mit London sei möglich - etwa in der Zollunion oder einem gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraum. Auch ein Freihandelsabkommen wie mit Kanada oder Japan sei eine Option.

Die Briten müssten nur eines wissen, mahnte Juncker: Auch im Fall eines No-Deal-Brexit werde die EU auf jene drei Bedingungen pochen, die schon im Austrittsvertrag geregelt wurden. Erst wenn klar ist, dass EU-Bürger die gleichen Rechte wie Briten in der EU bekommen, London seine finanziellen Verpflichtungen gegenüber Brüssel begleicht und eine spürbare Grenze zwischen Irland und Nordirland verhindert wird, kann es zu Gesprächen über die künftige Beziehung kommen. "Diese Fragen werden nicht verschwinden", sagte Juncker.

Auch der Kommissionschef zeigte sich entschlossen, "bis zur letzten Minute" dafür zu kämpfen, einen "ehrenwerten EU-Austritt" zu ermöglichen. Ein ungeordneter Brexit würde nur den "Gegnern der multilateralen Weltordnung" in die Hände spielen, sagte Juncker. Um zu veranschaulichen, welche Probleme im Fall eines No Deals drohen, warnte die Kommission am Mittwoch erneut vor den unabsehbaren Folgen beim Zoll. Allein zwischen Dover und Calais verkehren etwa 11 000 Güterfahrzeuge pro Tag, die dann kontrolliert werden müssten. Dieses Chaos will keiner. Darüber sind sich London und Brüssel einig. Unklar ist nur: Wie will man das verhindern?

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SZ vom 04.04.2019
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