Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:Tories befinden sich im Wettlauf ins Chaos

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Boris Johnson ist der große Favorit für das Amt des Premiers. Dass er keinen Plan für den Brexit oder die Zukunft hat, stört seine wütende Partei nicht.

Kommentar von Cathrin Kahlweit, London

In Großbritannien haben die Boris-Festspiele begonnen, und die Kritiken sind jetzt schon fulminant. Ein "Scharlatan mit Bravado" sei der mögliche künftige Premierminister, heißt es, ein würdiger Nachfolger des Kriegspremiers Winston Churchill, er verspreche "Mut und Energie". Boris Johnson selbst muss gar nicht viel sagen, er muss einfach nur er selbst sein - dafür liebt ihn die Partei. Das Ergebnis der ersten Abstimmungsrunde in der Fraktion konnte nicht deutlicher sein: Johnson bekam viel mehr Voten, als ihm selbst seine größten Fans zugetraut hatten. Die beiden Remainer im Feld sind weit abgeschlagen; sie werden keine Chance haben. Die Tories werden damit zu Anarchisten: Sie ahnen, dass sie für das Chaos stimmen. Aber es fühlt sich verdammt gut an.

Als Journalist in Brüssel war Boris Johnson bekannt dafür, dass er Horrorartikel über die EU-Bürokratie zusammenschusterte, die Times feuerte ihn wegen ausgedachter Zitate, als Londoner Bürgermeister setzte er einige Megaprojekte in den Sand, als Außenminister fiel er durch Wurschtigkeit und mangelnde Detailkenntnis auf. Und in der Vote-Leave-Kampagne log er, dass sich die Balken bogen, Stichwort: das 350-Millionen-Versprechen auf einem roten Bus. Aber: Der Mann kann Wahlen gewinnen, sagen sie bei den Tories, das habe er in London zwei Mal bewiesen. Und seine burschikose Art erreiche die Menschen.

Das ist so, und nur darauf kommt es den Konservativen derzeit an: Die Tories wollen sich selbst vor der Auslöschung und vor der Spaltung bewahren, indem sie einen Mann an die Spitze lassen, der - wenn es nach Charakter und Lebensleistung geht - nicht zum Premier taugt. Einen Fall wie den von Theresa May, die das Rennen um den Parteivorsitz und damit um das Amt der Regierungschefin nur aus Mangel an Gegenkandidaten gewann, ohne sich in einem Wahlkampf bewiesen zu haben, das soll es nicht mehr geben.

Sicher: Entsprechend der überaus komplizierten Arithmetik der Partei kann durchaus noch ein anderer, ein Überraschungskandidat, den Wettbewerb gewinnen. Schließlich gilt die Regel: Wer am Anfang die Umfragen anführte, wurde zum Schluss nur selten Sieger. Aber so weit wie Boris Johnson lag auch noch nie einer vorn. Seine Botschaft, die er von allen am lautesten trompetet, lautet: Ich werde den Brexit "abliefern". Welchen Brexit, welche Details, welche Lösungsvorschläge, welche Ideen er hat für Stolpersteine wie Nordirland oder den Handel mit der EU, das sagt er nicht. Ob er das Parlament auflösen will, wenn es ihm den harten Brexit verweigert: keine klare Antwort. Warum er glaubt, dass No Deal auch No Problems bedeutet: keine Erklärung.

"Brexit means Brexit", Mays Leerformel, wird jetzt zum Dauerbrenner

Und damit, das ist das Schockierende, steht er nicht einmal allein, denn radikale politische Angebote haben derzeit gute Chancen auf Zustimmung in einem Land, in dem ein Bruchteil der Bevölkerung im Alleingang einen Regierungschef vorbestimmt. Es entscheiden nämlich einzig die wütenden Mitglieder der Tory-Partei, die sich, wenn man Umfragen glauben darf, von May und vom Unterhaus mehrheitlich um ihren Brexit betrogen fühlen.

Eine ganze Phalanx von Mitbewerbern behauptet daher ebenfalls, sie könne den Brexit liefern - weil die Parteimitglieder genau das hören wollen, und weil es als Gegengift verstanden wird gegen den Siegeszug von Nigel Farage und seiner Brexitpartei. Die Politiker, die sich jetzt rühmen, sie könnten Brüssel in die Knie zwingen, klingen dabei alle genau so wie jene Frau, über die sie sich noch kürzlich aufgeregt haben: "Brexit means Brexit", hatte May bis zum Erbrechen wiederholt. Diese Leerformel wird jetzt zum Dauerbrenner.

Der Wahlkampf ist damit zum Rennen in den Abgrund geworden. Die politischen Botschaften werden danach beurteilt, ob sie mit dem Siegesversprechen auch die Partei revitalisieren können - selbst wenn der Sieg über Brüssel am Ende gar nicht errungen wird. Die Bewerber präsentieren sich quasi vom Ende her. Wenn ich mit einem Federstrich den EU-Austritt geregelt habe, sagen sie, dann werde ich mit dem Geld, das frei wird, und dem Aufschwung, der dann einsetzt, X, Y und Z finanzieren. Der Weg dorthin - er bleibt im Dunkeln.

Damit ist die ursprüngliche Brexit-Idee tot. Die Debatte über Vor- und Nachteile ist vorbei; ein EU-Austritt als moderiertes Erfolgsmodell mit Kompromissen von beiden Seiten und Schutz für beide Seiten wird immer unwahrscheinlicher. Wahrscheinlicher werden hingegen zwei Optionen: No Deal - oder No Brexit.

Der 31. Oktober, der derzeit ultimative Austrittstermin, ist zu einem Sehnsuchtsdatum geworden. Auf ihn starren all jene, die glauben, dass eine neue, radikale Lösung an der Spitze der Partei, gewählt von Mitläufern, Karrieristen, alten und neuen Brexit-Fans, alle derzeitigen Probleme in der Partei, und damit auch im Land, löst. Die Alternative wäre ein Scheitern des Projekts, weil sich das Parlament in seiner Gesamtheit besinnt und dagegenstellt. Dann kommt vermutlich, was die Tories nie wollten: das Aus für den Brexit.

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Quelle:
SZ vom 14.06.2019
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