Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:Zwei Rücktritte innerhalb weniger Minuten

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Der britische Gesundheitsminister Sajid Javid und Finanzminister Rishi Sunak treten am Dienstagabend zurück. Boris Johnson benennt umgehend deren Nachfolger, dennoch ist das für ihn ein heftiger Rückschlag - seine Zukunft ist nun fraglicher denn je.

Von Michael Neudecker, London

Der Wortlaut der Briefe ist vernichtend. "Ich muss Ihnen mit großem Bedauern mitteilen, dass ich nicht mehr guten Gewissens in dieser Regierung dienen kann", schrieb Sajid Javid, der britische Gesundheitsminister, an seinen Chef Boris Johnson. Rishi Sunak, der Finanzminister, formulierte: "Die Öffentlichkeit erwartet zu Recht eine Regierung, die ordentlich, kompetent und seriös arbeitet." Er glaube fest daran, dass "diese Standards es wert sind, dafür zu kämpfen, und deshalb trete ich zurück". Schlechte Nachrichten prallen an Boris Johnson immer schon ab wie Steine an einer Stahlwand, aber - zwei Rücktritte von zwei der wichtigsten Minister in seinem Kabinett innerhalb nur weniger Minuten?

Allein die zeitliche Abfolge der Ereignisse am Dienstag war bemerkenswert. Es begann damit, dass Simon McDonald, ein ehemaliger hochrangiger Beamter des Außenministeriums, am Morgen auf Twitter einen Brief veröffentlichte, in dem er klarmachte, dass Johnson oder zumindest sein Team in den vergangenen Tagen bewusst gelogen hatten. Es ging um die Affäre um Chris Pincher, jenen Abgeordneten, den Johnson im Februar zum Vizechef des mächtigen Whip-Büros gemacht hatte. Das Whip-Büro kümmert sich darum, dass die Abgeordneten die Regeln und Standards einhalten und bei Abstimmungen nicht von der Parteilinie abweichen - Pincher jedoch verfolgen seit Jahren Anschuldigungen, er habe andere Männer sexuell bedrängt.

Am Donnerstag vergangener Woche trat Pincher nach einem Vorfall zurück, bei dem er in einem Klub zwei Männer belästigt haben soll, danach meldeten sich mehrere Betroffene öffentlich und schilderten Pinchers Benehmen in den vergangenen Jahren. Johnson ließ mitteilen, er habe von all dem nichts gewusst, als er Pincher ernannte.

Falsch, stellte nun Simon McDonald klar: Es habe bereits 2019 eine offizielle Beschwerde gegeben, und zwar kurz nachdem Pincher einen Posten als Staatssekretär im Außenministerium angetreten hatte. Johnson sei davon persönlich unterrichtet worden.

Die Entschuldigung des Premiers in der BBC überzeugte nicht mehr

McDonald beantwortete damit eine Frage, die seit Tagen in Westminster allgegenwärtig war, die Frage, was Johnson wusste, als er Pincher berief. Es geht da um ein Kernthema politischer Führung: den Umgang mit moralischen Grundregeln. Johnson soll Witze gerissen haben, als er auf Pinchers Probleme hingewiesen wurde. Am Dienstagnachmittag sagte das Kabinettsmitglied Michael Ellis, der die Regierung im Unterhaus vertrat, in einem seltsamen Verteidigungsversuch, Johnson habe sich leider nun an jene Beschwerde 2019 gegen Pincher "nicht mehr erinnert". Daraufhin brach die Opposition in lautes Gelächter aus.

Am Abend dann gab Johnson ein Fernsehinterview, in dem er zugab, im Nachhinein betrachtet sei es "ein Fehler" gewesen, Pincher zu berufen. "Ich entschuldige mich, es war falsch", sagte Johnson. Kurz danach versammelte er seine Unterstützer im Teezimmer im Unterhaus, während dieser Versammlung gab Javid seinen Rücktritt bekannt. Ein paar Minuten später folgte Sunak.

"Ich bin ein Teamplayer, aber die britische Bevölkerung erwartet zu Recht Integrität von ihrer Regierung", schrieb Javid in seinem Rücktrittsbrief. Das Misstrauensvotum im vergangenen Monat habe gezeigt, dass "eine große Zahl unserer Kollegen" Johnson nicht mehr unterstütze. Johnson gewann das Misstrauensvotum nur knapp, 148 Tory-Abgeordnete stimmten gegen ihn. Er müsse leider sagen, schrieb Javid weiter, der Premier habe "auch mein Vertrauen verloren".

Kritiker des Regierungschefs melden sich erfreut zu Wort

Sunak schrieb, es sei ihm klar, dass dies womöglich sein letztes politisches Amt sei, aber er habe einfach keine andere Wahl als zurückzutreten: "Wir können so nicht mehr weitermachen." Die Öffentlichkeit sei "bereit, die Wahrheit zu erfahren". Die Leute wüssten, "wenn etwas zu gut klingt, um wahr zu sein, dann ist es nicht wahr", womit er wohl Johnsons Umgang mit der schlechten wirtschaftlichen Situation im Königreich meinte.

Johnson spielt den Ernst der Lage gerne herunter, auch im SZ-Interview kürzlich stritt er ab, dass Großbritannien wirtschaftlich schwierige Zeiten vor sich hat. "Es ist mir klar geworden, dass unsere Herangehensweisen grundsätzlich zu verschieden sind", schrieb Sunak. Noch am Abend ernannte Johnson Steve Barclay, seinen Stabschef, als Nachfolger von Gesundheitsminister Javid, sowie den bisherigen Erziehungsminister Nadhim Zahawi als neuen Finanzminister.

Neben Javid und Sunak traten am Dienstagabend noch mehrere weitere Abgeordnete zurück, darunter drei Parlamentssekretäre, ein wichtiger Rechtsberater der Regierung sowie der Vizechef der Partei, Bim Afolami. Mehrere Minister aus Johnsons Kabinett, etwa Außenministerin Liz Truss oder Kulturministerin Nadine Dorries, sprachen Johnson dagegen das Vertrauen aus, "zu hundert Prozent", wie beide mitteilten.

Am 21. Juli geht das Parlament in eine Sommerpause bis zum 5. September. Johnsons Kritiker forderten am Dienstagabend seinen Rücktritt noch vor der Pause. Nach den Parteistatuten darf ein Tory-Chef nach einem gewonnenen Misstrauensvotum ein Jahr lang nicht noch einmal herausgefordert werden, aber in Westminster hält sich seit Dienstagvormittag hartnäckig das Gerücht, die Partei wolle noch kommende Woche die Regeln ändern.

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