Süddeutsche Zeitung

Berlin:Für Erleichterung zu früh

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Eine "sehr, sehr lange Nacht": In Berlin liegen SPD und Grüne nach einem turbulenten Wahltag zunächst beinahe gleichauf.

Von Jan Heidtmann, Berlin

Vielleicht zuerst einmal zu den Dingen, die an diesem undurchsichtigen Abend in Berlin zumindest sicher erscheinen. Dazu gehört, dass die Hauptstadt in den kommenden fünf Jahren zum zweiten Mal von einer Frau regiert werden wird. Zwischen Mai 1947 und Dezember 1948 hatte die Sozialdemokratin Louise Schroeder das Amt inne. Nun wird die kommende Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey heißen. Oder Bettina Jarasch. Wobei der zunächst kaum vorhandene Abstand zwischen SPD und Grünen sich im Laufe des Abends vergrößerte. Aber es bleibt eine kniffelige Aufgabe, die die Berliner ihren Spitzenkandidatinnen mitgegeben haben.

Von der üblichen Erleichterung nach der Wahl war jedenfalls nur wenig zu spüren. Weder in der Columbiahalle in Berlin Tempelhof noch in der Station Berlin beim Park am Gleisdreieck. In der Columbiahalle feierten die Grünen. "Berlin hat gewählt. Und das ist großartig", sagte deren Spitzenkandidatin Jarasch in ihrer Ansprache. Viele Berliner hätten ihr und ihrer Partei das Vertrauen geschenkt. Aber es werde wohl noch eine "sehr, sehr lange Nacht".

Ein paar Kilometer weiter nördlich in der Station Berlin feierten wiederum die Sozialdemokraten. Mit Ovationen wurde ihre Spitzenkandidatin bei jedem ihrer Auftritte begrüßt. Mit ihrer unerschütterlich guten Laune dankte Giffey all ihren Unterstützern im Wahlkampf und fügte hinzu: "Wir sind jetzt an einem Punkt, wo es immer noch spannend ist. Aber wäre es einfach, dann könnte es ja jeder."

In Wahllokalen gingen die Wahlzettel aus

Damit hatte Giffey auf jeden Fall Recht. Denn ob die nächste Regierungschefin nun Bettina Jarasch oder Franziska Giffey heißen wird, hängt nicht nur vom amtlichen Endergebnis, sondern auch von den möglichen Koalitionen ab. Jarasch würde am liebsten die derzeitige Regierungskoalition mit SPD und Linken fortführen. Giffey hatte sich im Wahlkampf nicht auf ein Bündnis festgelegt und konnte sich auch einen Politikwechsel in einer Koalition mit CDU und FDP vorstellen. Der Frage an diesem Abend, ob sie sich auch eine Koalition nur mit den Grünen vorstellen könnte, wich sie immer wieder aus.

Einen Wahltag wie diesen hat Berlin lange nicht mehr erlebt - ein Superwahltag mit Bundestagswahl, Wahl zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen, dazu noch die Abstimmung über die Frage, ob große Wohnungsbaugesellschaften vergesellschaftet werden sollten. Und, wem das noch nicht reichte, für den fand außerdem der Berlin-Marathon statt. So gab es allerhand Verzögerungen und Denkwürdigkeiten an diesem Wahltag. In einigen Wahllokalen wurden offenbar Wahlzettel aus anderen Bezirken ausgegeben, in mehreren anderen Wahllokalen gingen die Wahlzettel aus.

Dadurch kam es teils zu langen Warteschlangen, denn Versuche, Nachschub zu organisieren, scheiterten immer wieder am Marathon, für den in der ganzen Stadt Straßen gesperrt waren. Landeswahlleiterin Petra Michaelis verlängerte deshalb kurzerhand die Öffnungszeiten der Wahllokale. Am Nachmittag verkündete sie, dass jeder Wähler, der bis 18 Uhr in einer Schlange stehe, um seine Stimme abzugeben, dies auch tun könne. So warteten selbst um 19 Uhr noch Menschen vor den Wahllokalen. Berlins Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) meinte, diese Pannen müssten genauer untersucht werden. Ob dies Konsequenzen für die Wahl an sich haben könnte, wollte er nicht sagen. "Ich kann noch nicht einschätzen, welches Ausmaß das hatte." Der Bundeswahlleiter forderte später einen "detaillierten Bericht" von der Landeswahlleitung zu den Pannen in Berlin an.

"Ich bin völlig überwältigt", sagte Jarasch

Dass es beim Ablauf der Wahl ruckelte, passte gut zu den Volten, die es in diesem Wahlkampf immer wieder gab. Bis zum Samstag war nach den letzten Umfragen fest davon auszugehen, dass die SPD mit Giffey die Wahl recht deutlich gewinnen würde. Vor zwei Monaten sah es noch so aus, als würden Grüne und CDU das Rennen untereinander ausmachen. Anfang des Jahres hingegen wies alles auf einen Kantersieg der Grünen hin, die da in Umfragen bei 27 Prozent der Stimmen lag. "Ich bin völlig überwältigt", sagte Bettina Jarasch dann auch am frühen Abend. "Ich freue mich unheimlich, weil wir eine echte Aufholjagd hingelegt haben."

Auf der Wahlparty der SPD in der Station Berlin wiederum feierten die Genossen jede weitere Hochrechnung, die die Sozialdemokraten vorne sah. Ansonsten hatten sie sich tatsächlich gut gelaunt auf eine lange Nacht eingerichtet. "Ich hoffe, dass die Zeit für uns spielt", ermunterte Giffey bei einem ihre Zwischendurchauftritte. Wenn hier noch ein Sieg zu feiern sein würde, dann wäre es ein Sieg der Geduld.

Auch die SPD hatte einige überraschende Wendungen in diesem Wahlkampf erlebt. Anfang des Jahres noch wirkten ihre Umfragewerte wie festzementiert bei 15 Prozent der Stimmen. Selbst die populäre Bundesfamilienministein Franziska Giffey als neue Co-Landesvorsitzende konnte daran nichts ändern. Die Wende kam im August, da zogen die Sozialdemokraten erstmals mit den Grünen bei rund 21 Prozent gleich. Von da an ging es fast im Gleichschritt mit der Bundes-SPD und Olaf Scholz stetig aufwärts.

Der Verlust des Doktortitels konnte Giffey nichts anhaben

Das Comeback der Genossen ist jedoch auch das Verdienst von Franziska Giffey. In der Rangliste der Beliebtheit der Spitzenkandidaten lag sie konstant vorn. Dass ihr die Freie Universität Berlin ihren Doktortitel wegen eines Plagiats aberkannte, änderte daran genau so wenig wie ihr Rücktritt vom Amt der Bundesfamilienministerin im Frühjahr. Wichtiger scheint den Berlinern ihre offene Art zu sein, die sie schon als Bezirksbürgermeisterin von Neukölln auszeichnete. "Der Berliner will erstmal stolz sein uff seine Stadt. Das ist doch das Wichtigste", sagte sie auf einem Wahlkampftermin im August. "Dafür müssen wir wat tun." Mit ihren Themen Wirtschaft, Bildung und Sicherheit zielte sich klar auf die Mitte der Bevölkerung ab.

Schwierig für etwaige Koalitionsverhandlungen mit Grünen und Linken würde so auch die "rote Linie", die Giffey bei der Frage von Enteignungen großer Wohnungsgesellschaften gezogen hat. Anders als Jarasch, für die eine Vergesellschaftung Ultima Ratio ist, lehnt Giffey sie ab. Ähnlich weit auseinander gehen die Meinungen der Spitzenkandidatinnen bei der Umweltpolitik. "Wir müssen diese Stadt fit machen für den Klimawandel", betonte Jarasch noch einmal an diesem Abend. Dazu gehöre auch, das Auto in der Stadt nach und nach überflüssig zu machen. Giffey hingegen will keinem Berliner sein Auto nehmen. Ein Koalitionsangebot klingt anders.

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