Süddeutsche Zeitung

Berlin:Stell dir vor, es ist Gedenken und kaum einer geht hin

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Beim Erinnern an die Niederlage der Nazis sind Geschichte und Gegenwart kaum mehr zu trennen. Deshalb müssen die Russen ihren Feiertag in Berlin weitgehend isoliert begehen.

Von Jan Heidtmann, Berlin

Natalia Tokareva lebt nun zehn Jahre in Berlin, seitdem kommt sie regelmäßig am 9. Mai zu dem von zwei Panzern eingerahmten Sowjetischen Ehrenmal im Tiergarten. Sie trägt ein recht knappes rotes Kleid, einen Blazer und einen kräftigen schwarzen Haarreif. In der rechten Hand hält sie ein Dutzend rosa Rosen und eine Halterung, an deren Spitze das Foto ihres Großvaters befestigt ist. Er war einer der Sowjetsoldaten, die dafür gekämpft haben, Deutschland vom Nationalsozialismus zu befreien. 2004 ist er gestorben.

Die ganze Familie habe bis dahin gemeinsam im sibirischen Omsk gelebt, erzählt Frau Tokareva. "Am 9. Mai gab es immer eine große Tafel und viel Essen. Dann haben wir im Fernsehen die Parade in Moskau geschaut", erinnert sich die Enkelin. "Das war ihm ganz wichtig." Und jetzt, der Krieg gegen die Ukraine? "Ja, das ist eine ganz schwierige Situation", sagt sie. "Aber man muss das auseinanderhalten." Das eine sei Geschichte, das andere die Gegenwart.

Doch es scheint an diesem Gedenktag in Berlin kaum möglich, nicht beides miteinander zu vermengen. Das zeigt sich schon an den Kränzen, die am frühen Morgen vor dem Ehrenmal im Berliner Ortsteil Treptow niedergelegt wurden. Es sind nur noch die engsten Verbündeten, die diesen Tag gemeinsam mit Russland begehen wollen. Armenien zum Beispiel, Usbekistan oder Belarus. Andrij Melnyk, der ukrainische Botschafter, war bereits am Sonntag im Tiergarten, um den Sieg über die Deutschen zu würdigen.

Mehr als 20 Veranstaltungen waren für den Montag angemeldet worden, darunter eine unter dem Titel "Dank den sowjetischen Soldaten für die Befreiung vom Faschismus", eine andere unter dem Motto "Stoppt den Krieg! Frieden und Freiheit für die Ukraine!". Sorgen bereiteten den Sicherheitsbehörden vor allem die sogenannten Nachtwölfe, eine Putin-nahe Rockergruppe, die sich angekündigt hatte. Doch die blieben eher ein böser Spuk, nur eine Handvoll von ihnen wurde von der Polizei gesichtet.

Flaggen, Uniformen und Militärabzeichen sind verboten

Um Konfrontationen zu verhindern, hatte Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD) 1700 Beamte auf die Straße geschickt. Dazu waren umfassende Vorschriften für Auftritte rund um die 15 wichtigsten Ehrenmale erlassen worden. Darunter das Verbot, Flaggen zu zeigen, Uniformen zu tragen oder das Sankt-Georgs-Band, ein ursprünglich russisches Militärabzeichen. Ausnahmen gibt es nur für Weltkriegsveteranen und bei Veranstaltungen von Botschaften.

Auf einem Laufband auf der Rückseite eines Polizeiwagens läuft die Liste der Verbote noch einmal zum Nachlesen mit. Etwa 500 Teilnehmer des "Rotarmisten-Gedächtnis-Aufzugs", der größten angekündigten Demonstration an diesem Tag, trotten hinterher. Sie tragen Bilder von im Zweiten Weltkrieg gefallenen Rotarmisten mit sich und singen russische Lieder. Darunter den doppeldeutigen Klassiker "Katjuscha", ein Liebeslied, das aber genauso heißt wie ein russischer Raketenwerfer. Ein Demonstrant hat sich einen blauen Handwerkeranzug angezogen und eine Kappe der Rotarmisten aufgesetzt. So sieht es aus, als trage er eine Uniform.

Immer wieder setzen die Polizeibeamten die lange Liste der Vorschriften durch, sammeln Fahnen ein oder ein kleines Z, das Zeichen für den russischen Feldzug in der Ukraine, das sich eine Frau an das Revers geheftet hat. Besonders das Verbot, Flaggen zu zeigen, wurde heftig kritisiert. Selbst vom Außenminister der Ukraine im fernen Kiew. "Berlin hat einen Fehler gemacht, ukrainische Symbole zu verbieten. Es ist zutiefst falsch, sie mit russischen Symbolen gleichzusetzen", schrieb Dmytro Kuleba auf Twitter. Umgekehrt ärgerten sich Anhänger Russlands darüber, dass keine sowjetischen Fahnen gezeigt werden durften.

Der Flaggenstreit war dann auch so etwas wie eine Quintessenz dieser Gedenktage. Jede Seite instrumentalisierte das Verbot für ihre Zwecke. Stefan Evers, Generalsekretär der oppositionellen Berliner CDU kündigte gar an, gegen die Vorschrift klagen zu wollen. Doch so wie zuvor bereits die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) verteidigte auch Polizeipräsidentin Barbara Slowik die Entscheidung. Es sei darum gegangen, "würdiges Gedenken zu gewährleisten und Auseinandersetzungen, auch verbaler Art, an den genannten Orten zu vermeiden".

Elena Gaeva, 24, trägt die Flagge unterhalb des rechten Auges. Sie ist aufgemalt wie bei einem Fußballfan und zeigt nur die Farben blau und weiß, die Farben der russischen Antikriegsproteste. Weil aber auch das Fahnen sind, musste sie eben den Platz vor dem Ehrenmal im Tiergarten räumen. Gaeva, ein schmale, quirlige Frau, hat ihr Lager schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite aufgeschlagen. Gemeinsam mit einigen Mitstreitern präsentiert sie eine Foto-Ausstellung zur Opposition gegen Putin in Russland. Sie handelt davon, wie die Gegner des Regimes in Moskau drangsaliert und eingesperrt werden. Dazu wird auf einer kleinen Bühne immer wieder Musik gespielt und es gibt Interviews zur Lage in Russland. "Wir wollen hier auch unsere Position zeigen", sagt Gaeva. "Vor allem wollen wir aber zeigen, dass nicht alle Russen Gefolgsleute Putins sind."

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