Süddeutsche Zeitung

Protest:Hunderttausend gegen Putins Krieg

Lesezeit: 3 min

20 000 Menschen waren angemeldet, am Ende findet in Berlin die größte Friedensdemonstration seit Jahrzehnten statt. Selbst deutsche Waffenlieferungen werden kaum kritisiert.

Von Thomas Balbierer, Berlin

Regina Carlberg steht am Sonntag allein in einer riesigen Menschenmasse vor der Berliner Siegessäule. Um die kleine Frau herum findet gerade die größte deutsche Anti-Kriegs-Demo seit fast zwei Jahrzehnten statt. Mindestens hunderttausend Menschen protestieren bei strahlendem Sonnenschein gegen den russischen Überfall auf die Ukraine, schwenken blau-gelbe Fahnen und stoßen Protestschilder in die Luft. Hier und da sieht man das Peace-Symbol.

Regina Carlberg, eine 74 Jahre alte Berlinerin, hat kein Schild gemalt, sich keine ukrainische Flagge um die Schultern gelegt. Sie steht nur da und lauscht den Worten der Rednerinnen und Redner vorne auf der Bühne. Manchmal nickt sie, murmelt Sätze wie "Genau so ist es" oder "Sehr richtig". Besonders eifrig stimmt sie zu, als ein Sprecher vor einer "neuen Rüstungsspirale" warnt und sagt, dass es neben dem unentschuldbaren Angriff auf die Ukraine auch "Drohgebärden" aus der Nato gegeben habe. "Der Mann hat recht", sagt Carlberg zu sich selbst. Darauf angesprochen, sagt sie, dass sie es trotz des Krieges für einen Fehler hält, deutsche Waffen an die Ukraine zu liefern, wie es Bundeskanzler Olaf Scholz am Wochenende angekündigt hat. "Waffen haben noch nie ein Problem gelöst."

Schon Anfang der 1980er-Jahre habe sie im Bonner Hofgarten gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen protestiert, 2003 sei sie mit einer halben Million anderer Menschen in Berlin gegen den Irak-Krieg auf die Straße gegangen - genau hier an der Berliner Siegessäule, wo sie nun wieder steht. "Ich bin eine alte Pazifistin", sagt Regina Carlberg. Es gibt sie also noch.

"Wir waren ja alle naiv", sagt ein 26-Jähriger, der erstmals demonstriert

Man muss das so betonen, denn sonst sind die klassischen Kriegsgegner, die Waffengewalt fundamental ablehnen und gerne auch über die Nato schimpfen, an diesem Sonntag kaum vernehmbar. Vielleicht verharren sie nach dem Schock des russischen Überfalls lieber im Selbstgespräch wie Regina Carlberg. Stattdessen hört man in Gesprächen mit Demonstrierenden, dass es gut sei, dass Deutschland nun Waffen an die Ukraine liefert. Paul Zillat aus Hamburg sagt zum Beispiel, dass er seine Meinung zu Waffenlieferungen geändert habe - es sei nun geboten, der Ukraine militärisch zu helfen. "Wir waren ja alle naiv", sagt der 26-Jährige.

Auch er habe nicht damit gerechnet, dass Putin tatsächlich zum Angriff auf die Ukraine losschlägt. Der Krieg habe ihn so schockiert, dass er zum ersten Mal in seinem Leben auf einer Demonstration sei. Sein Zwillingsbruder Stephan steht neben ihm und nickt. Auch Christine Diener, 51, ist zum ersten Mal auf einer Demo. Auch sie hofft, dass es noch nicht zu spät ist, die Ukraine bei der Verteidigung gegen Russland zu unterstützen, auch mit Kriegsgerät. Selbst von der Bühne kommt an diesem Tag wenig Kritik an der Abkehr vom deutschen Prinzip, keine Waffen in Kriegsgebiete zu senden. Eine in der Ukraine geborene Aktivistin ruft ins Mikrofon: "Ich bin so dreist und sage: Ich fordere Waffen!"

Ein breites Bündnis aus Gewerkschaften, Kirchen, Klimaschützern und der Friedensbewegung hatte zur Großkundgebung an der Siegessäule mobilisiert. Es ist wohl die größte Anti-Kriegs-Demo in Deutschland seit den Protesten gegen den Irak-Krieg. Die Hauptbotschaft, die davon ausgehen soll, ist klar: "Stoppt den Krieg", steht über den Protestaufrufen. Es ist aber vor allem auch eine weitere Solidaritätsbekundung mit den Ukrainerinnen und Ukrainern. Viele Demonstrierende haben das Gefühl, dass Deutschland die Ukraine bislang zu wenig unterstützt habe. Seit Tagen versammeln sich deshalb immer wieder Tausende Demonstranten in deutschen Städten.

Dem Berliner Protestaufruf sind sehr viele Menschen gefolgt. Die ursprünglich angemeldeten 20 000 Teilnehmer werden weit überschritten, die Polizei geht von etwa 100 000 Menschen aus, die Veranstalter jubeln sogar über 500 000.

"Putin ist nicht Russland", sagt Verdi-Chef Frank Werneke

Als erster Redner spricht Verdi-Chef Frank Werneke. Der Gewerkschaftsboss ist es gewohnt, auf großen Kundgebungen aufzutreten und fordert Wladimir Putin mehrfach zum Ende der Kampfhandlungen auf. Er betont die Solidarität mit der Ukraine, sagt aber auch, dass man die russische Bevölkerung nicht mit ihrem Präsidenten gleichsetzen solle. "Putin ist nicht Russland." Auch dort gebe es kritische Stimmen, die unter riskanten Bedingungen gegen den Krieg demonstrierten. Auch ihnen solle man Respekt und Solidarität zeigen. Die Bundesregierung ruft Werneke zu scharfen Sanktionen auf, die man nicht aus Rücksicht auf wirtschaftliche Interessen unterlaufen dürfe.

Die Klimaaktivistin Luisa Neubauer erhebt in einer wütenden Rede schwere Vorwürfe gegen die deutschen Regierungen der vergangenen Jahre. "Es ist ein fossiler Krieg, finanziert von Ländern wie Deutschland", sagt die Fridays-for-Future-Aktivistin. Russisches Erdgas sei "bis vorgestern" als unverzichtbarer Teil der deutschen Energieversorgung dargestellt worden. Der Krieg in der Ukraine zeige, dass Klimagerechtigkeit und Frieden unzertrennlich zusammengehörten, sagt Neubauer. Sie fordert einen radikalen Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen und einen schnelleren Wandel hin zu erneuerbaren Energien. "Waffen allein reichen nicht", sagt Neubauer dann noch. Da nickt auch Regina Carlberg wieder eifrig mit.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5538008
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.